Goethes Protagonist seines gleichnamigen großen Werkes Faust personifiziert das Trachten nach der Wahrheit mittels der menschlichen Vernunft. Er verkörpert das, was wir heute „die Wissenschaft“ nennen. Gleichzeitig stellt das vielleicht größte Werk Goethes ein Mahnmal für uns dar, das im Kontext der Corona-Pandemie wieder auf schreckliche Weise an Bedeutung gewinnt. Ist der Faustische Mensch der geistige Vorvater des transhumanistischen Ideals?
Das Erbe Goethes
Jeder Abiturient und jede Literaturstudentin ist mindestens einmal freiwillig oder unfreiwillig mit den Werken Johann Wolfgang von Goethes in Berührung gekommen. Er gilt bis heute als einer der größten deutschen Dichter und das aus meiner Sicht nicht nur auf Grund seiner Sprachgewalt. Vor allem die Inhalte, die Goethe uns in seinen lyrischen, epischen und dramatischen Werken wie Faust oder Fragment über die Natur hinterließ, zeichnen ihn aus meiner Sicht als Vordenker und geistiges Leuchtfeuer aus, das wir heute offensichtlich mehr denn je benötigen.
Goethe hat neben seinen schriftstellerischen Werken auch wissenschaftliche Beiträge wie seine Farbenlehre oder seine botanischen und geologischen Forschungen, die er unter anderem während seiner großen Reisen durch Italien durführte, vorgelegt. Wenngleich er sich selbst dabei als „Dilettanten“ im ursprünglichen Sinne bezeichnete, ist sein Streben nach Wissen im wissenschaftlichen, künstlerischen aber auch im spirituellen Bereich sehr inspirierend. Zwar lebte J. W. Goethe zu einer Zeit, in der die Gesellschaft noch sehr christlich geprägt war, allerdings setzte er sich als junger Mann ebenfalls mit nah- und fernöstlichen Glaubenstraditionen auseinander. Goethe verkörperte das, was ich als Universalgelehrten bezeichnen würde. Dieses universale Wissen ist in künstlerischem Gewand im Faust auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen verarbeitet.

Kurzer Abriss der Dramenhandlung
Lässt man die „Zueignung“, die dem Drama vorangestellt ist, außen vor, beginnt das Werk mit dem „Vorspiel auf dem Theater“, das das Dilemma zwischen Kunst und Unterhaltung in einem Dialog zwischen dem Direktor, dem Dichter und einer lustigen Person beschreibt. Danach beginnt das eigentliche Drama mit dem „Prolog im Himmel“, in welchem „Der Herr“, also Gott, und „Mephistopheles“, eine Emanation des diabolischen Prinzips, eine Wette abschließen. Mephistopheles ist davon überzeugt, Faust verführen zu können, während „Der Herr“ in dessen Rechtschaffenheit vertraut. Wenn Mephistopheles Dr. Faust vom rechten Wege abbringen sollte, darf er über dessen Seele auch nach dessen Tod verfügen.
Dann springt die Handlung ins Studierzimmer des Doktors, in welchem er ein okkultes Ritual durchführt und den Erdgeist, die Seele der Welt, beschwört und dabei fast wahnsinnig wird. Schließlich begegnet ihm bei einem Spaziergang Mephistopheles in Form eines Pudels, der ihm zuläuft. Mephistopheles macht Faust das Angebot, ihn aus dem staubigen Alltag eines Gelehrten hinaus in die Welt zu führen und dabei all seine Wünsche zu erfüllen, wenn dieser ihm dafür das Anrecht auf seine Seele vermacht. Nach einigem Zögern stimmt er zu. Daraufhin erleben sie ein paar Abenteuer, bis sie schließlich Margarete begegnen, die in Faust sofort Begehren auslöst, woraufhin Mephistopheles eine Zusammenkunft arrangieren soll. Schließlich müssen Faust und Mephistopheles flüchten, da Faust den Bruder Gretchens bei einem Fechtkampf tödlich verletzt. Margarete, von der Liebesnacht mit Faust schwanger, gebiert ein uneheliches Kind vom Mörder ihres Bruders und bringt es in ihrer Verzweiflung um, wofür sie eingesperrt wird. Faust versucht, sie aus dem Gefängnis zu befreien. Sie verweigert aber die Flucht und stellt sich dem Urteil Gottes, der ihr vergibt.

Parallelen zur Gegenwart
Man könnte selbstredend ein ganzes Buch bezüglich der Parallelen zur Gegenwart füllen. Darum kann hier nur schlaglichtartig auf einzelne Aspekte eingegangen werden. Zunächst ein paar Worte zum „Vorspiel auf dem Theater“. Schon im 18. Jahrhundert nahmen die Künstler wahr, wie ihre Werke zunehmend zur bloßen Unterhaltung der Massen dienen, die ständig nach Neuem, Leidenschaftlichem, Erschreckendem und Aufregendem schreien, was dem Direktor des Theaters wiederum die Kasse füllt, den Dichter jedoch zur „Produktion“ zwingt, worunter seine Kunst und damit er selbst leidet. Die Parallelen zur modernen Medienlandschaft sind geradezu bestechend. Sowohl die „Leitmedien“ als auch die „Freien Medien“ bedienen meines Erachtens immer plakativer die Sensationsgier der Konsumenten. Der moderne Mensch ist von schnellen aufregenden Informationshäppchen offensichtlich völlig abhängig, sodass tiefere Inhalte und längere Texte kaum mehr Aufmerksamkeit finden. Journalistinnen, Journalisten und Kulturschaffende, die es derzeit im Zuge der um sich greifenden „Cancle-Culture“ und erschwerten Auftrittsmöglichkeiten besonders schwer haben, werden förmlich dazu gezwungen, massentauglich zu werden. Was im 18. Jahrhundert unter anderem ein Grund zur Geburt der „Romantik“ war, äußert sich heute im Ausbau der „Freien Medien“, deren Netzwerke immer stärker wachsen und zu ernstzunehmenden Konkurrenten auf dem medialen Feld werden.
Der Themenkomplex, der in diesem Artikel im Zentrum steht, ist im Protagonisten Dr. Faust selbst angelegt. Der Universalgelehrte vereint mehrere Bedeutungsebenen, die hier getrennt betrachtet werden müssen. Zum einen steht er für die Tradition der Schulwissenschaft. Seine Fächer sind dabei vor allem Medizin und Jura. Im Volke ist der Gelehrte für seine Taten während der großen Pest berühmt. Sein Vater hat zu jener Zeit eine Medizin entwickelt, um der Pest zu begegnen:
„FAUST. Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,
Der über die Natur und ihre heil’gen Kreise,
In Redlichkeit, jedoch auf seine Weise,
Mit grillenhafter Mühe sann.
(…)
Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
und niemand fragte: wer genas?
So haben wir, mit höllischen Latwergen,
In diesen Tälern, diesen Bergen,
Weit schlimmer als die Pest getobt.
Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben,
Sie welkten hin, ich muss erleben
Dass man die frechen Mörder lobt.“
(Goethe (1808): „Faust“, 1034–1055.)
In den Augen mancher mag die Corona-Pandemie der Pest gleichkommen. In den Augen anderer mögen die derzeit gegen die Pandemie ins Feld geführten Impfungen den „höllischen Latwergen“ entsprechen. Beides halte ich für überspitzt. Ich persönlich sehe die Parallelen zwischen dem Faust und der Gegenwart viel eher im blinden Vertrauen der Bevölkerung gegenüber den Gelehrten. Die Bauern sind Dr. Faust nach wie vor für sein Handeln dankbar, obwohl er selbst mit „Beten und mit Fasten, mit Tränen, Seufzen, Händeringen (…) das Ende jener Pest vom Herrn des Himmels zu erzwingen“ suchte (3). Dies spricht nicht gerade für ein Vertrauen in die eigene Profession, da er im Glauben nicht in der Forschung nach Hilfe suchte.
„Die moderne Wissenschaft“ hingegen, die heutzutage ihrem Wesen nach streng atheistisch ist, hat offensichtlich blindes Vertrauen in „die Medizin“. „Die Expertinnen und Experten“ sind sich offenkundig mehrheitlich einig, dass die Antwort auf die Corona-Pandemie nur im Impfstoff liegen kann, da sich die Gerüchte häufen, die Zusammenhänge zwischen bestimmten unterwünschten Symptomatiken und den Impfstoffen würden nur unzureichend untersucht werden. Dieses bewusste oder unbewusste Ignorieren möglicher Anzeichen einer falschen Entscheidung, deutet aus meiner Sicht auf eine ideologische Haltung hin, die den eingeschlagenen Weg bis zur Irrationalität verteidigt.

Der „Faustische Mensch“
„Die Wissenschaft“, die sich vor allem in den „exakten“, also den „Naturwissenschaften“, in ihrer Reinform verkörpert sieht, möchte wie Goethes Dr. Faust erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Sie möchte Wörter und Wege finden, die Natur völlig zu durchleuchten, zu beschreiben und sie schließlich zu menschlichen Zwecken zu verändern. Der Faustische Mensch ist bestrebt, die universale Wahrheit mittels der Vernunft zu ermitteln und zu verstehen. Goethe hingegen weist uns mit seinem Drama darauf hin, dass dies vergebene Müh‘ ist. Denn als Dr. Faust in seiner Verzweiflung sogar zu Magie greift und den Erdgeist, also die personifizierte Natur höchstselbst, mit Gewalt beschwört, erschüttert ihn diese Begegnung zutiefst:
FAUST. Weh! ich ertrag dich nicht!
GEIST. Du flehst eratmend mich zu schauen,
Meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn;
Mich neigt dein mächtig Seelenflehn,
Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen
Fasst Übermenschen dich!
(…)
FAUST. Der du die weite Welt umschweifst,
Geschäftiger Geist, wie nah fühl ich mich dir!
GEIST. Du gleichst dem Geist den du begreifst,
Nicht mir!
Goethe (1808): „Faust“, V. 485–513.
Diese Begegnung macht Dr. Faust klar, wie ein von reinem Wissen völlig verbildeter Verstand eines „Übermenschen“ im wahren Angesicht der Natur verzweifeln muss, obwohl er sich durch seine Forschung ihr sehr nah fühlt. Die Natur weist ihn jedoch zurecht und sagt, er gleiche dem, was er mit seinem Verstand begriffen habe, aber nicht der Natur selbst. In diesen zwei Versen ist meines Erachtens die Quintessenz der Naturphilosophie Goethes ausformuliert. Will man die Natur wirklich begreifen, so ist der Verstand, die Wissenschaft, höchstens ein Teil der Antwort. Das Gefühl der wirklichen Verbundenheit kann nur im tiefen Inneren durch direkten Kontakt erfahren werden. Darum schließt sich Dr. Faust auch dem Herrn der Welt, der im Drama in der Person des Mephistopheles auftritt, an, um wirkliche Lebenserfahrung zu sammeln.

Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die Natur!
Die Person des Dr. Faust verkörpert zu Beginn des Dramas den bis zur Erschöpfung getriebenen Wissenschaftler, der zwar vieles, ja fast alles gelernt, aber noch immer nichts wirklich verstanden hat. Das Vertrauen darauf, irgendwann mit wissenschaftlichem Fortschritt „die Wahrheit“ entdecken zu können, kann als „faustischer“ Irrweg bezeichnet werden. Der „Faustische Mensch“ trägt heutzutage einen Doktortitel und einen Doktorkittel, formuliert komplizierte Texte, die nur seines gleichen versteht, die seine „Wahrheiten“ enthalten, die die große Mehrheit der Bevölkerung nun glauben sollen, weil sie diese nicht verstehen können. Als Faust versteht, dass er bisher geirrt hat, lässt er sich in seiner Verzweiflung ob der Erkenntnis sogar mit dem Teufel ein.
Johann Wolfgang von Goethes Warnung vor diesem Irrweg ist nun fast 250 Jahre her. Zwar verstehen wir in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher, wie fatal der derzeitige Menschheitskurs ist, doch wirkliche fundamentale Veränderungen werden nicht in die Wege geleitet. Ideen wie Rohstoffe aus Nutzhanf oder Pilzen, das Prinzip der Permakultur, nachhaltige Vollholzbauten oder eine gerechte Wirtschaftsordnung werden recht stiefmütterlich behandelt, während nun die ganze Welt sich fast ausschließlich auf das CO2 eingeschossen hat. Es werden neue Begriffe wie „klimaneutral“, „Green Deal“, „grüne Revolution“ und „Klimaschuld“ geprägt, die den Menschen als Sündenbock brandmarken, der vermeintlich nur mit immer neuerer und besserer Technik die Probleme lösen kann, die unter anderem durch die Maschinisierung selbst hervorgerufen wurden.
Natürlich sind auch nicht die Maschinen schuld. Von „Schuld“ zu sprechen ist meines Erachtens ohnehin keine hilfreiche Ausgangsposition. Vielmehr sollten wir die Probleme, die wir ja nun ausgiebig in Dokumentationen und wissenschaftlichen Ausarbeitungen benannt haben, entschlossen angehen. Dabei sollten wir uns auf die Kräfte der Natur verlassen, die auch durch uns Menschen hindurchwirken. Wir sind Kinder der Welt. Mutter Natur hat uns sich selbst als Heimat geschenkt. Lasst uns gemeinsam dieses Geschenk in Ehre halten und mit einer positiven Haltung den Herausforderungen entgegen gehen. Nicht der transhumanistische „Übermensch“, sondern der echte Mensch wird uns meiner Überzeugung nach retten, wenn wir uns wieder auf die Natur besinnen.
von Marco Lo Voi
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