
Als wir so nebeneinander saßen, berührten sich unsere Fingerspitzen sanft, doch sie zog ihre Hand nicht weg. Mein Herz begann zu pochen, die Härchen auf meiner Haut richteten sich auf und ein wohliger Schauer durchfuhr meinen ganzen Körper. Ihr kennt vielleicht das Gefühl, wenn man einander unwillkürlich so nahe kommt, dass man sich mehr streift als berührt. Bei guten Freunden oder innerhalb der Familie sind solche Berührungen häufig und oft wenig spannend. Mit einer Person, die wir aus verschiedenen Gründen anziehend finden, suchen wir solche Berührungen vielleicht sogar, auch wenn die innere Aufregung dabei zu einem Feuerwerk werden kann. Kennt man sich hingegen nicht so gut, rollt man seine Zehen wieder ein oder zieht die Finger bei einer solchen körperlichen Zufallsbegegnung meist zurück. Bei mir und ihr war es nicht so, obwohl wir uns an jenem Tag das erste Mal wirklich trafen. Denn ich hatte zwar schon oft ich an sie gedacht, war aber einfach zu schüchtern, zu ehrfürchtig, zu zurückhaltend und vielleicht sogar ein bisschen ängstlich, mich ihr wirklich zu nähern. Im vergangenen halben Jahr habe ich jedoch noch mehr als sonst mit Max, einem Freund, über sie gesprochen. Max erzählte mir viel über sie. Faszinierendes, Unverständliches, Vieldeutiges und Ehrfurchtgebietendes. Ich hielt es dabei wie mit allem: erst, wenn die innere Neugier, sich mit ihr zu treffen, ohne äußere Zwänge von selbst zu einem wirklichen Wunsch wird, dann werde ich es wagen.
Ungefähr zwei Wochen vor jenem Tag kristallisierte sich in mir eben dieser Wunsch nach einem Treffen. Wie ein Korken, der an einem dünnen Faden am Grund eines Sees festgebunden war, sich plötzlich davon löste und immer schneller werdend nach oben treibt, bis er schließlich von selbst an der Oberfläche auftaucht, tanzte eben dieser Wunsch plötzlich auf dem Spiegel meines Bewusstseins. Die Entscheidung dafür war lange schon da, offenbarte sich nun aber vollends. Alleine wollte ich mich jedoch nicht trauen und so verabredete ich mich mit Max, der mich zum Treffpunkt begleiten sollte. Der Begegnungsort war mir sehr bekannt. Oft saß ich auf dieser Bank am Waldrand und tat verschiedene Dinge. Ich laß Bücher über den Wald selbst oder auch über Belangloses, aß eine Kleinigkeit, scherzte und lachte mit Freunden gemeinsam oder dachte in Selbstreflexion versunken über den Wald an sich nach. Der Anblick war mir also sehr vertraut. Und ebenso, wie man beispielsweise von seinen Geschwistern oder langjährigen Freunden immer ein ähnliches eingeprägtes Bild behält, das sich nur sehr träge und aus besonderen Gründen wandelt, schaute ich mit dergleichen alten Liebe stets auf den Wald, auch wenn er sich über die Jahre, ja im Grunde in jeder Stunde und Sekunde verändert und wandelt.
An dem Tag des Treffens war viel Bekanntes jedoch sehr besonders. Auch wenn Max mich bis kurz vor die Bank am Waldrand begleitete, wo sie auf mich wartete, und sich dann selbst in einiger Entfernung am Waldrand niederließ, spürte ich zu jedem Zeitpunkt seine Präsenz, obwohl wir, sie und ich, die ganze Zeit über allein zu zweit unterwegs waren. So saß ich also endlich mit ihr da und unsere Fingerspitzen berührten sich. Ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus, das sich irgendwo zwischen leichter Übelkeit und überfreudiger Anspannung bewegte. Dieses Gefühl hielt sich anfangs recht hartnäckig, doch als sich unsere Hände einander wirklich umschlossen, war dieses Gefühl verschwunden. Der Raum, den dieses Gefühl hinterließ, wurde jedoch angefüllt und aufgedehnt mit vielen Empfindungen und Gedanken, dich man getrost als ein wahres Wechselbad zwischen unbändiger Kraft, kindlicher Verspieltheit und faszinierter Hingabe bezeichnen könnte. Die Wärme ihrer Hand zog mich zuerst langsam in ihren Bann, dann erhob sie sich plötzlich von der Bank und zog mich mit.
Wir spazierten am Waldrand entlang. Jener Waldrand, den ich die vergangenen Jahre so oft angeschaut und mich an seinen Anblick so gewöhnt hatte. Auch an seine Geräuschkulisse. Doch als wir noch auf der Bank saßen, und sie meine Hand ergriff, spannte sich mein akustischer Sinne auf und ich hörte die ganze Vielfalt der Geräusche des Waldes. Ebenso, wie ein Orchester bei einer Theateraufführung vom Publikum ungesehen im Theatergraben unablässig wirkt, sind die Geräusche des Waldes zwar immer schon dagewesen, aber ihrer wirklich bewusst zu werden ist, als ob jemand im Theater plötzlich weitere Scheinwerfer auf die Musikerinnen und Musiker des Orchesters richtet, sodass sie nicht „nur“ die Musik für das Theater produzieren, sondern jede und jeder einzelne von ihnen wirklich Teil der Aufführung wird. Bekannt ist auch der Klang einer Geige, doch ein Orchester hat neben der ersten auch noch mehrere zweite Geigen, die die erste immer eifrig begleiten – und dann wären da auch noch die ganzen anderen Musiker zu nennen, die vom Glockenspiel über die Pauke in vollendeter Harmonie miteinander den Teppich aus Klang weben.
So spazierte ich mit ihr auf diesem Klangteppich, der sich um uns herumwob und blickte auf den Wald. Während der ersten Schritte auf dem Teppich wurde der Tag immer heller. Die Sonne entdeckte bisher verdeckte Farben der Blumen und Bäume für mich, die ich zwar schon oft angeschaut hatte, ihre Vielfalt und Farbenpracht nun aber das erste Mal wirklich sah. Der Zauber, den sie, die mich an der Hand am Waldrand entlangführte, ausstrahlte, schien nicht mehr nur neben mir sondern immer mehr aus mir selbst herauszustrahlen. Energie und ungeahnte Kräfte pulsierten durch meinen Körper, der sich unverwundbar und doch leicht wie eine Feder anfühlte. Bedingungslose Freude begleitete mich wie ein Schmetterling, dessen Flug so unberechenbar halsbrecherisch aber doch von einer geheimen Absicht geleitet erscheint. Wann immer ich stehenbleiben wollte, um mir ein kleines Schauspiel auf dem Waldboden oder zwischen den Blättern einer Pflanze anzusehen oder eine Frucht des Waldes zu genießen, ließ sie mich gewähren und blickte mir nur mit leuchtenden Augen über die Schulter. Max war ebenfalls immer da.
Der Spaziergang fühlte sich sehr lange an. Auch wenn ich im Nachhinein nicht mehr genau sagen kann, wann wir wo entlangegangen waren, hatte ich bereits volle Sinne, als sich schließlich die Dämmerung ankündigte und wir an einem gräsernen Hang Halt machten. Dort begrüßte uns ein orangener Feuerball, der sich mit seiner schrecklich schönem Pracht anschickte, ihren Glanz für den heutigen Tage von den Dingen zu nehmen. Ich spürte das Rund der Erde und die Weite des Himmels, als wir, sie und ich, Max bestimmt auch, uns Hand in Hand auf der Wiese niederließen. Zum ersten Mal sah ich wirklich, welch machtvolles Zentrum die Sonne ist. Die Wolken umspielten den sich immer weiter Dunkelorange verfärbenden Himmelskörper, um den wir behütet im Schoße von Mutter Erde mit galaktischer Geschwindigkeit rotieren. Die dabei entstehenden Kräfte zeichneten die Wolken in einer konzentrischen Spirale auf den blauen Grund des Himmels. In unserem Rücken lichtete auch schon der Mond den hellblauen Schleier des Himmels und zeigte uns schüchtern sein erleuchtetes Halbrund.
Bevor die Sonne den Vorhang des Tages vollständig zugezogen hat, erhoben wir uns gemeinsam und sie begleitete mich bis nach Hause. Dort lagen wir noch ein wenig gemeinsam nebeneinander, auch wenn sie, als wir an meiner Tür ankamen, ihre Hand von meiner sacht löste. Ich genoss ihre bloße Anwesenheit, als ich mich noch ein wenig in den Klangwelten auf Schallwellen dahintreiben ließ und schließlich wegschlummerte. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war sie fort. Der Klangteppich hatte sich wieder eingerollt. Das morgendliche Tageslicht schien wie immer durch meine Fenster. Dennoch war ich voller Tatendrang und noch immer sehr energetisiert von diesem einfachen Spaziergang mit ihr. Obwohl ich nur ihre Hand gehalten hatte, hat sie mir den Unterschied zwischen einfachem Schauen und wirklichem Sehen gezeigt. Sie hat mir für einen halben Tag geholfen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu erkunden.
Ob ich sie wiedersehen werde? Bestimmt. Die Zeit allein wird jedoch zeigen, wann dies sein wird. Und auch wenn es bei diesem einmaligen Treffen bleibt, so hat ein Teil ihres Zaubers in mir wie eine feine Saat bereits angewurzelt. Der Spaziergang hat mir gezeigt: Respekt und Ehrfurcht sind nicht dasselbe wie Angst und Zurückhaltung. Es ist nicht leicht, sich einer eindrucksvollen Person zu nähern, gar sich mit ihr zu unterhalten oder sie zu berühren. Bewegt man sich in Angst, können Geräusche, die aus dem Wald hervordringen, wie Geistergeheul klingen. Tritt man der Person jedoch mit Respekt gegenüber, so können sich die Klänge in ferne Walgesänge wandeln. Wie ein mächtiger Blauwal in träger Eleganz seine Stimme in die Wellen webt, so drönt das Leben selbst aus allen Poren, wenn wir es wagen, nicht einfach nur zu schauen, sondern wirklich zu sehen.
von Marco Lo Voi
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