11.07.’18, Tag 23
10:05 Uhr, Rom
Ich genieße die Ruhe und die Einsamkeit meiner Unterkunft in vollen Zügen. Hier kann sich ein Geist auf Reflexion von Eindrücken konzentrieren, die ich gestern erneut zuhauf mitnahm. Ich hatte mich gestern um 14:30 Uhr mit Federica verabredet.
Da ich nicht wusste, wie lange ich benötigen würde, um zum Colosseo zu kommen, ging ich um kurz nach 13:00 Uhr schon los. Zunächst musste ich von meiner Adresse zum Bahnhof Monte Mario gelangen. Aus dem zehnminütigen Fußweg wurden fünfunddreißig, da ich mich mittelstark auf halbem Weg verzettelte. Die Beschreibung eines alten Herren und meine Offlinekarte waren hilfreicher als die GPS-Navigation.
Vom Bahnhof Monte Mario ging es etwa fünfundzwanzig Minuten bis zur Station Ostiense. Hier in Rom funktionieren Regionalzüge wie Metros, da die Stadt wirklich enorm ist. In Ostiense angekommen, musste ich etwa fünf Minuten bis zur Metrostation Piramide laufen. Mit der Metro ging es dann etwa zehn bis fünfzehn Minuten bis zur Station Colosseo.

Tatsächlich kam ich pünktlich um 14:30 Uhr an. Etwa zehn Minuten später fiel mir eine gutaussehende Federica um den Hals, drückte mir zwei Wangenküsse auf und schon ging es mit dem Colosseo als Ausgangspunkt vor Augen los in das Gewimmel des mittäglichen Tourismus. Ich hatte mit allen möglichen Szenarien des Wiedersehens gerechnet, aber nicht mit einer herzlichen Umarmung. Wir beide schieden nicht gerade unter dem günstigsten Stern voneinander, aber sie wirkte auf mich, als sei dies nie passiert.
Vom Colosseo weg, gingen wir die Via dei Fori Imperiali entlang, die gerade renoviert wird. Gegenüber kann man die gut erhaltenen Trümmer des Foro Romano bestaunen. Wenige hundert Meter weiter steht der riesige Altare della Patria – ein monumentales Kriegsdenkmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs. In Italien findet sich wirklich in fast jeder Stadt mindestens ein Monument für die Gefallenen eines Krieges. In Deutschland sind diese Dinge weit weniger präsent. Fede meinte, die Deutschen hätten Angst, über die Vergangenheit zu sprechen und ganz Unrecht hatte sie damit vermutlich nicht.

Weiter ging es über die Piazza Venezia zum Gebäude mit dem Balkon, von wo aus Mussolini seine Reden an das Volk gerichtet hatte. Zwischen den Häusern, etwas versteckt in den schmalen Gassen, steht der unglaublich schön gestaltete Fontana di Trevi. Ein Brunnen, der mehr eine ästhetische Anordnung kunstvoll gestalteter Statuen ist, die auf einer Küstenszene stehen. Vom Rand der modellierten Bruchkante fließt das Wasser kaskadenartig in ein ausladendes Becken. Davor pressten sich die Touristen förmlich durch die Gässchen und meine Fede ging in der Masse fast unter. Sie erzählte mir von einem Mythos, der besagt, wenn man es schaffe, eine Münze mit Rücken zum Brunnen über den Kopf in das Wasser zu werfen, dann dürfe man Rom erneut besuchen.

Nächste Station: das Pantheon. Die Gassen waren so eng, dass ich nicht einmal sagen könnte, wie dieses berühmte Gebäude von außen aussieht, da wir unversehens vor dem Säuleneingang standen. Im Inneren tummelte sich der Pulk der Fotogeier. Selfiestickparaden und Tableteinlagen waren hier dominanter als die Ehrwürdigkeit dieses Monuments. Recht schnell verließen wir die brechend vollen Hallen wieder.

Wir erreichten die Piazza di Spagna mit ihren charakteristischen Treppen, die wir erklommen, um an der Stirnseite des Villa Borghese zunächst den Ausblick auf ganz Rom und ein Stück weiter gehend, auf die Piazza del Popolo mit ihrer Säule zu haben.
„Anderer Orten muß man das Bedeutende aufsuchen, hier werden wir davon überdrängt und überfüllt. Wie man geht und steht, zeigt sich ein landschaftliches Bild aller Art und Weise, Paläste und Ruinen, Gärten und Wildnis, Fernen und Engen, Häuschen, Ställe, Triumphbögen und Säulen, oft alles zusammen so nah, daß es auf ein Blatt gebracht werden könnte. Man müßte mit tausend Griffeln schreiben, was soll hier eine Feder! und dann ist man abends müde und erschöpft vom Schauen und Staunen.“ Goethe, Italienische Reise: Rom, 7. November 1786 |

Es fiel mir allerdings schwer, mich auf die Pracht der Stadt voll konzentrieren zu können, da Federica und ich uns angeregt auf Italienisch und Englisch unterhielten. Wir setzten uns gegenseitig auf den neusten Stand. Sie war sehr interessiert an allem, was meine Freunde, Freiburg und mein Leben betrifft. Auch ich horchte sie aus. Wir hatten einander viel zu erzählen.
Es ging sogar soweit, dass sie dachte, mich würde die Pracht Roms kalt lassen, darum beeilte ich mich ihr zu versichern, dass ich grundsätzlich nicht der Typ bin, der Luftsprünge mache und seine Begeisterung verbal Ausdruck verleihe. Vielleicht, weil ich fast die ganze Zeit allein reise und deswegen mehr den inneren Dialog pflege und höchstens ein Pfeifen oder ein breites Grinsen meine Begeisterung nach außen hin sichtbar macht. Zudem war da ja noch Fede selbst, die ebenfalls einen guten Teil meiner kognitiven Kapazitäten beanspruchte.

Wir setzten uns in eine Bar und tranken Wein, was die Stimmung weiter aufheiterte und so lachten wir fast wie vor einem Jahr. Es herrschte definitiv eine gewisse Spannung zwischen uns beiden, aber ich wage nicht, sie zu charakterisieren. Für Fede war ich in meinem abgeranzten Zustand ein Relikt aus glücklichen Tagen in Freiburg; ein manifestierter Spirit, der sie während ihres Erasmusjahrs beinahe vollständig eingenommen hatte und sie, laut ihrer Aussage, bis heute zum Positiven hin verändert hat.
Sie sagte, und das freute mich am allermeisten, das Jahr in Freiburg wäre für sie ihre schönste Zeit gewesen. Als sie nach Rom zurückkehrte, wäre es ihr die ersten Monate schwergefallen, sich wieder an den Lärm, die Hektik und die Menschen zu gewöhnen. Das relaxte Leben Freiburgs bildet so ziemlich das Gegenteil zum weltstädtischen Leben Roms.
Wir saßen beim Abendessen, als ihr einfiel, die Metros würden nur bis etwa kurz nach 22:00 Uhr fahren. Als ihr dies bewusst wurde, war es bereits 21:00 Uhr und das Essen war noch nicht auf dem Tisch. Also wurde das romantische Abendessen zu einem kleinen Wettlauf gegen die Zeit. Sie begleitete mich zur Metro und wir verabschiedeten uns.

Das Bier, das eine Glas Wein und der halbe Liter Hauswein beim Essen taten ihre Wirkung und ich lief tanzend und summend den Bahnsteig entlang, im Ohr tha reggae music! Trotz kurzer Verwirrung beim Umsteigen klappte alles. Zuhause angekommen, fand ich Giorgio relaxt vorm TV sitzen. Ich ging ins Bad und setzte mich danach kurz zu ihm. Anschließend beschloss ich den Ethanolrausch zu nutzen, indem ich noch ein wenig schrieb. Es folgte ausgiebiger Schlaf.
Selten überschnitten sich die Erfahrungen und Beobachtungen, die Goethe machte, so genau mit den meinen, wie in Rom. Es scheint, als habe selbst nach über zweihundert Jahren Rom einen gewissen eigenen Geist konserviert.
Doch wen wundert dies bei einer derart langen Historie. Der größte Unterschied ist wohl die massive Urbanisierung der umliegenden Region, die er noch als Wildnis bezeichnete. Heute erstrecken sich hier nur noch Häuserblocks und Betonwüsten. Der ehemals naturbelassene Monte Mario, an dem meine Unterkunft liegt, ist heute lediglich ein Ausläufer der inzwischen riesenhaften Weltmetropole.
Nichtsdestotrotz wird man hier wahrlich von Sehenswürdigkeiten überdrängt. Meine Stadtführerin zog mich unbarmherzig von Ort zu Ort, da sie mir unbedingt alles zeigen wollte, was es zu sehen gibt. Ja, die Tage in Rom zähle ich getrost zu den kräftezehrendsten, doch ereignisreichsten und erfülltesten Tagen meines bisherigen Lebens.
von Marco Lo Voi