Das „Selbst“ – Konstrukt oder Realität?
Im ersten Teil dieser Beitragsreihe habe ich meine Definition des Begriffs „Selbst“ dargelegt und aufgezeigt, wie die Energien „Hass“ und „Liebe“ damit zusammenhängen. Das Verkennen des „Selbst“ ist meines Erachtens die Ursache für das, was wir gemeinhin als „Hass“ bezeichnen. Erkennen wir unser „Selbst“ als das, was es ist, nämlich eine Idee, die sich im Laufe unserer Lebenszeit immer weiter konkretisiert, dann erkennen wir auch die Wurzel unserer Empfindungen, Gedanken und Meinungen und damit die Möglichkeit aus „Hass“, „Liebe“ oder anders ausgedrückt aus „Spaltung“, „Vereinigung“ zu entwickeln. Das „Selbst“ ist entsprechend den buddhistische Lehren also ein Konstrukt, das leider allzu häufig als real existent angesehen wird. An diese Aussage schließt sich unmittelbar die Frage an, was denn diese sogenannte Realität eigentlich ist? Sicherlich eines der schwersten philosophischen Probleme, das hier aber nicht erschöpfend diskutiert werden soll.
Nur soviel: Realität ist subjektiv. Deswegen gibt es nicht die eine Realität, sondern so viele Realitäten, wie es Menschen auf dieser Erde gibt. Tatsachen oder Fakten, die es in unserer menschlichen Welt natürlich gibt, betten sich immer in eine subjektive Wahrnehmung ein und können nie für sich alleine etwas bedeuten. Darum kann vor allem das eigene „Selbst“ nie „Realität“ sein, weil dieses „Selbst“ an sich den Rahmen für die jeweiligen Fakten oder Tatsachen bildet. Darüber steht nur das Bewusstsein. Ihr könnt es selbst prüfen! Fragt doch mal euer Umfeld über verschiedene Eigenschaften eurer eigenen Person aus. Ihr werdet feststellen, dass deren Wahrnehmung eures „Selbst“ bestimmt in mehr als nur einem Aspekt von dem abweicht, was ihr selbst von euch denkt. Wer hat nun aber recht?
Von der Selbsterkenntnis zum Selbstbewusstsein
Erkennen wir also an, dass unser „Selbst“ nur eine Idee ist, die so vergänglich und veränderlich wie Wind und Wetter ist, dann können wir daraus ein Selbst-Bewusstsein schöpfen, das uns den Glauben an die Absolutheit unserer subjektiven Wahrnehmung nimmt. Damit meine ich den Glauben, alles, was unserer eigenen Wahrnehmung entspringt, als „absolute Realität“ anzusehen. Zugleich bedeutet diese Erkenntnis auch: die Wahrnehmung jeder zweiten Person über euer Selbst kann ebenfalls niemals absolut, niemals „vollständig wahr“ sein. Dies birgt eine Quelle unendlichen Selbstbewusstseins! Menschen, die stets darauf bedacht sind, was andere wohl über sie denken, die sich auf Facebook oder Instagram inszenieren und Leistungen erbringen, die ihnen vermeintliche Anerkennung bei anderen einbringen, haben leider zu oft ein sehr brüchiges und oberflächliches Selbstbewusstsein.
Diese Menschen erliegen der Verblendung, Bewunderung und Respekt anderer sei notwendig, um die eigene Person, das eigene Selbst zu bestätigen. Sie brauchen einen gesellschaftlichen Spiegel, in welchem sie sich selbst wahrnehmen, ihr eigenes „Selbst“ bestätigen können. Selbstbestätigung heißt nicht nur, die Anerkennung von anderen für die eigene Leistung zu bekommen, sondern die Bestätigung durch andere Menschen , dass das eigene „Selbst“ wirklich existiert! Nimmt man Menschen, die sich und ihr Handeln stets inszenieren, die Plattformen der Inszenierung weg, dann fehlt ihnen dieser Spiegel und damit die Möglichkeit, sich ihr eigenes Selbst zu bestätigen. Wenn diese Personen dann nicht in der Lage sind, in sich ihr eigenes Selbst zu spüren, ihres eigenen „Selbst“ bewusst zu sein, dann folgt auf Langeweile sehr schnell Verzweiflung.
Selbst-Bewusstsein hat also nicht nur etwas mit einem selbstsicheren Auftreten zu tun. Für manche ist ihr Selbstbewusstsein sehr stark an bestimmte Dinge wie ihren Beruf, eine bestimmte Uniform oder Verkleidung, eine Maske oder ein Internetportal gebunden. Trifft man diese Menschen jedoch nach Feierabend oder im „Real Life“, nimmt ihnen ihre Uniform oder ihre Maske, dann fällt dieses Selbstbewusstsein wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das Konstrukt, die Idee oder abwertend ausgedrückt: die Inszenierung ihres „Selbst“ ist plötzlich wie weggewischt.
Selbstbewusstsein und Selbst-Bewusstsein
Diejenigen, die genau hingeschaut haben, haben vermutlich bemerkt, dass ich zwischen „Selbst-Bewusstsein“ und „Selbstbewusstsein“ unterschieden habe. Doch wozu? In dieser Unterscheidung liegt der eigentliche Kern dieses Beitrags:
Neben dem „Selbst-Bewusstsein“, also dem Bewusstsein um das eigene „Selbst“, gibt es das, was wir gemeinhin als „Selbstbewusstsein“ bezeichnen. Dieses Selbstbewusstsein ist eine Form der Selbstsicherheit für die Existenz der Idee, die wir von unserem Selbst haben. „Selbstbewusstsein“ bezeichnet also eine Form des Auftretens und „Sich-gebens“ vor anderen Menschen. „Er wirkt sehr selbstsicher“ oder „sie tritt äußerst selbstbewusst auf“, sagt man dann. Dies hat aber nur bedingt etwas mit dem zu tun, was ich mit Selbst-Bewusstsein meine.
Sich der Natur, also dem wahren Wesen seines Selbst bewusst zu sein, heißt, zu erkennen, dass dieses „Selbst“ eine Idee ist, die stetem Wandel unterliegt und niemals vollständig erfasst werden kann. Eines der zentralen Gesetze, die der Buddhismus stets betont, lautet: Alles ist vergänglich. Unser „Selbst“ ist davon nicht ausgeschlossen. Was wir oberflächlich an unseren sich verändernden Musikgeschmäckern und Essensvorlieben leicht erkennen können, spielt sich auch in tiefer liegenden Regionen unseres Bewusstseins ab. Unser Ego, unsere Persönlichkeit, unser Selbst wandelt sich also fortlaufend.
Ist man sich der Natur seines „Selbst“ bewusst, dann weiß man, dass jede andere Person vermutlich eine andere Idee von unserem eigenen Selbst hat. Unsere eigene Wahrnehmung unseres Selbst ist dabei nicht mehr und nicht weniger wert als die Wahrnehmung anderer Personen – nur die Perspektive ist eine andere. Würde man alle existierenden Perspektiven übereinanderlegen, dann würden wir uns immer näher an das heranbewegen, was unser wahres Selbst ist. Doch diese objektive „Wahrheit“, diese „Realität“, bleibt ein unerreichbares Idealbild. Hat man dies schließlich erkannt und verinnerlicht, hat man also „Selbst-Bewusstsein“ erlangt, dann erwächst daraus eine neue Form des „Selbstbewusstseins“ – nämlich ein Selbstbewusstsein, dass unabhängig von den Meinungen anderer und sogar der eigenen Meinung über euch selbst bestehen kann.
Zwischen Arroganz und Selbstsicherheit
Nehmt euch Zeit und lest den obigen Abschnitt langsam und bedächtig noch einmal. Diese Gedanken sind sehr abstrakt und stellen auch mich mit ihrer hoffentlich verständlichen Formulierung auf die Probe. Um dennoch ungesunde Missverständnisse vorzubeugen, möchte ich kurz erläutern, dass wahres „Selbst-Bewusstsein“, das zu bedingungslosem „Selbstbewusstsein“ führt, nicht mit falscher Selbstsicherheit verwechselt werden darf. Falsche, ja fehlgeleitete Selbstsicherheit bezeichnet man auch als Arroganz. Arroganz attestiert man für gewöhnlich nicht sich selbst, sondern stellt sie bei anderen Personen fest. Man bezeichnet demnach in der Regel andere als arrogant, wenn man glaubt, die Person oder die Personengruppe überschätzt den Wert oder das Ausmaß ihrer Leistung, ihres Könnens oder ihres Aussehens. Dabei ist es nicht immer leicht herauszufinden, ob die Feststellung des arroganten Verhaltens vom eigenen Neid geprägt oder frei davon ist. An dieser Stelle ist Selbstehrlichkeit gefragt.
Was bedeutet das nun für die eigene Selbstsicherheit? Zunächst sollte der Maßstab, an welchem man sich misst, immer die eigene Entwicklung sein. Will man abnehmen und man hatte vorher 90 Kilo und ist nun bei 85 Kilogramm angelangt, dann ist das ein Erfolg. Nun sieht man jedoch andere Menschen, die im gleichen Zeitraum vielleicht sogar 10 Kilo verloren haben. Was nun? Man sollte zunächst anerkennen, dass man auf dem richtigen Weg ist und daraus Mut schöpfen. Zugleich sollte man sich nicht auf dieser Anerkennung ausruhen, denn es gibt ja offensichtlich Menschen, die im gleichen Zeitraum mehr Gewicht verloren haben. Man sollte sich fragen, ob man wirklich alles getan hat, um Gewicht zu verlieren – Selbstehrlichkeit! Wenn ja, dann sollte man einfach im Rahmen der eigenen Möglichkeiten weitermachen. Wenn man jedoch erkennt, dass man sein Potential nicht ausgeschöpft hat, dann ist das doch eine gute Nachricht! Ist noch Luft nach oben, dann wird man in der nächsten Etappe noch schneller Gewicht verlieren, wenn man sich ein bisschen mehr anstrengt.
Wenn man im Vergleich zu anderen hingegen sehr gute Leistungen erzielt, dann sollte man sich ebenfalls nicht auf diesem Ruhm ausruhen und sich schon gar nicht nach unten orientieren. Orientiert man sich immer nur nach unten und betont den Unterschied zu der geringeren Leistung anderer, kann dies sehr schnell als arrogant empfunden werden. Darum ist es unerlässlich, das eigene Handeln, die eigenen Leistungen, die eigene Meinung und die eigenen Gedanken selbständig und für sich selbst ständig zu prüfen. Es kann dabei sehr hilfreich sein, sowohl den Rat und die Meinung von Vertrauten als auch von wirklich unabhängigen und neutralen Personen aktiv einzuholen. Was ihr schlussendlich daraus entwickelt, ist letzten Endes jedoch eure eigene Sache. Gleiches gilt im Umgang mit anderen. Wenn ihr euren Freunden selbst dann nur Komplimente macht, obwohl ihr eigentlich der völlig gegensätzlichen Meinung seid, dann fördert ihr Verblendungen und ein daraus resultierendes Verhalten, dass von anderen Personen als arrogant empfunden werden könnte. Seid ehrlich, aber bleibt konstruktiv!
Wie man ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt und stärkt
Wer ein gesundes Selbstbewusstsein hat, schafft es also, im Angesicht „Besserer“ nicht zu verzweifeln und aus ihrem Vorsprung Motivation zu gewinnen. Scheint man den anderen jedoch voraus zu sein, sorgt ein gesundes Selbstbewusstsein dafür, diesen Vorsprung den anderen nicht auf die Nase zu binden, sondern sich wiederum an „Besseren“ zu orientieren, um die eigene Entwicklung weiter zu fördern. Dabei kann man denjenigen aufmunterndes Vorbild und Lehrer sein, die wiederum einem selbst nacheifern. Wir habe also festgestellt, wie Arroganz sich auf ewig währendem Vergleich zurückführen lässt. In unserer heutigen Gesellschaft ist der Wettbewerbsgedanke eine Selbstverständlichkeit geworden. Der Wettbewerbsgedanke und der ewige Vergleich sind es, die uns ständig an uns selbst zweifeln lassen und damit unser Selbstbewusstsein beschädigen.
Sich selbst ab und an auf die Schulter zu klopfen, wenn man ein selbst gestecktes Ziel erreicht hat, ist gut und hat nichts mit Arroganz zu tun. Sich immerwährend selbst zu beklatschen, egal was man tut, wirkt auf andere hingegen arrogant und hindert eure persönliche Entwicklung. Nachdem man die Existenz des Selbst-Bewusstseins verinnerlicht hat, ist der erste Schritt in der Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins demnach, sowohl Eigen-Lob und Selbst-Kritik als auch Komplimente und kritische Anmerkungen anderer annehmen zu können. Wird man ehrlich gelobt, dann ist es wirklich nicht verkehrt, einfach mal „Danke“ zu sagen. Gleiches gilt für Kritik. Wird man konstruktiv kritisiert, sollte man die Worte der Kritik aufnehmen und sinngemäß antworten: „Ich werde deine Worte beherzigen.“ Ist die Kritik wirklich scharf, dann bedenkt, dass die Worte der Kritik niemals gegen deine Person, dein Selbst oder dein Ich gerichtet sein kann, weil die andere Person nur ihre subjektive Idee, ihre Version, die er oder sie von deinem Selbst hat, in dieser Situation kritisiert.
Der nächste Schritt besteht darin, die Ratschläge anderer umzusetzen und weiterzuentwickeln. Lasst es uns den Bäumen gleichtun. Bäume lehren uns, dass es nicht nur Teamwork ODER Wettkampf gibt. Ihre Form des Zusammenwirkens kann man als kooperativen Wettbewerb bezeichnen. Man hat festgestellt, dass einzelne Bäume, haben sie die anderen durch eine vorteilhafte Lage im Wachstum überholt, ihre Nährstoffaufnahme und damit ihr Wachstum drosseln, um anderen, kleineren Bäumen die Möglichkeit zu geben, ebenfalls im Ökosystem Wald anzukommen. Entgegen der vermeintlichen „Logik“, der wir im Kapitalismus erlegen sind, kennen die Bäume kein ewiges Wachstum und Monopolbildung. Sie sind genügsam und weise. Die Bäume haben verstanden, dass sie einander brauchen, um das Ökosystem Wald im Gleichgewicht zu halten.
Mit „Selbst-Bewusstsein“ zum gesellschaftlichen Frieden
Wir erleben gerade eine Zeit, in der die Krise des Bewusstseins langsam auf ihren zerstörerischen Zenit zusteuert. Während wir einen vermeintlichen weil aussichtslosen Kampf gegen Viren führen, zerstören wir derzeit aktiv die gläserne Festung „Real-Wirtschaft“, die wir im ewigen Eifer erbaut haben. Statt mit der Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten zu leben, versuchen wir derzeit alles, um dem Gesetz der Vergänglichkeit entgegenzuwirken. Während wir versuchen, seit ihrer Geburt todgeweihte Menschen durch ein Mittel zu helfen, dass vielleicht sogar künftige Generationen noch vor ihrer Geburt beeinträchtigen könnte, traumatisieren wir junges, frisches Leben und zerstören die Visionen junger Unternehmerinnen und Unternehmer, Künstlerinnen und Künstler, Solo-Selbständige und Alleinerziehende.
Zugleich führen wir gesellschaftliche Debatten mit einer rhetorischen Gewalt, die uns eigentlich schonungslos zeigt, wie unbewusst zu mächtige Menschen mit ihrer Verantwortung umgehen. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen immer fassungsloser dabei zu, wie die Entscheidungsträger unserer demokratischen Ordnung ein heilloses Chaos anrichten, aus dem offensichtlich kein gangbarer Weg mehr hinauszuführen scheint. Würden wir als Menschheitsfamilie unser Selbst-Bewusstsein wieder entdecken, so würde sich gesellschaftlicher Friede wie selbstverständlich ausbreiten, da wir, ebenso wie die Bäume im Ökosystem „Wald“, als Menschen innerhalb der Gesellschaft aufeinander angewiesen sind.
In diesem Teil haben wir gesehen, dass aus einmaliger Selbst-Erkenntnis nun ein Selbst-Bewusstsein entwickelt werden sollte, welches uns zu einer festen Selbstsicherheit führt, die Selbstbestimmung und selbständiges Handeln wieder möglich machen. Zu lange haben wir uns als Menschheit immer auf andere verlassen und zu oft wurden wir dabei enttäuscht. Wann erkennen wir, dass wir unseren Körper, unseren Verstand und unser Herz nicht dafür bekommen haben, um „Mächtigeren“ und „Weiseren“ hinterher zu trotten, sondern um uns als aktiver Teil dieses Ökosystems „Erde“ und des menschlichen Organisationsprinzips „Gesellschaft“ zu beteiligen?
Von Marco Lo Voi
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