Tag 1 – Die Reise beginnt!
„Früh drei Uhr stahl ich mich aus Karlsbad, weil man mich sonst nicht fortgelassen hätte. Die Gesellschaft, die den achtundzwanzigsten August, meinen Geburtstag, auf eine sehr freundliche Weise feiern mochte, erwarb sich wohl dadurch ein Recht, mich festzuhalten; allein hier war nicht länger zu säumen. Ich warf mich ganz allein, nur einen Mantelsack und Dachsranzen aufpackend, in eine Postchaise und gelange halb acht Uhr nach Zwota, an einem schönen stillen Nebelmorgen. Mir schienen das gute Anzeichen. Ich hoffte, nach einem schlimmen Sommer einen guten Herbst zu genießen.“
– Goethe, den 3. September 1786
19.06.’18
05:18 Uhr, Erzingen – Zürich
In einem Zug der Schweizerischen Bundesbahn nimmt mein Abenteuer also seinen Ausgang. Die bereits milden Temperaturen unterschätzend, hatte sich bereits ein leichter Schweißfilm auf meine Stirn gelegt, als ich von Zuhause zum unweit gelegenen Bahnhof gelaufen bin, woraufhin ich meinen Ziphoodie wieder verstaute.
Eine kurze Nacht ließ mich heute Morgen mit der Gewissheit erwachen, mittags von Müdigkeit heimgesucht zu werden. Eine Mischung aus Traumbildern des heutigen Tages, der Szene des Erwachens, Bangen, Vorfreude und grundloser Sorge ließen mir nur etwa zwei Stunden „Schlaf“. Die morgendliche Verabschiedung von meiner Mutter fiel einseitig emotional aus. Auch das Gesicht meines jüngeren Bruders lies darauf schließen, dass alle um mich herum nervöser schienen, als ich es selbst bin.
Meine ganze Nervosität, die sich zuvor nur in kurzen Schüben geäußert hatte, entlud sich in der vergangenen Nacht in einem finalen Knall, was mich heute übermüdet, doch kühlen Gemüts aus heimatlichen Gefilden entfliehen lässt.
Wofür mein geistiger Vorfahre um 1780 noch fünf Tage brauchte, das lege ich am heutigen Tage in weniger als acht Stunden zurück. Die moderne Zeit ist wahrhaftig von Schnelllebigkeit geprägt.
06:33 Uhr, Zürich
Unser heller Fixstern steht nun am Himmel und beleuchtet ein weiß gesprenkeltes Blau. Sommerliche Gefühle haben mich fest im Griff, während Zürich eine Atmosphäre ewigen Herbstes ausstrahlt. Zumindest der Bahnhof.
Bahnhöfe haben allgemein etwas Abstoßendes. Metall, Gewirr, Beton, Tauben, Dreck, Stress und Lärm. Trotzdem sind sie meine Tore von Ort zu Ort. Auf festen Gleisen reite ich das stählerne Ross, bis es Zeit wird umsatteln. Nach zwei kürzeren Ritten steht nun eine längere Etappe bis nach Innsbruck an. Mein erster Besuch dort.
Nun rase ich Richtung Österreich. Vor mir sitzt eine indische Familie und neben mir ein chinesisches Trio. Für Goethe waren es noch Landesgrenzen, die ausschlaggebend dafür waren, auf Muttersprachler anderer Nationen zu treffen. Reisen konnten die Wenigsten. Und nicht jeder der konnte, nahm diese Strapazen auf sich. Heute definiert sich ein moderner Mensch zu einem guten Teil darüber, wie viele Landesgrenzen er schon überquerte. Dass problemloses Reisen heute für viele Menschen möglich ist, ist schön. Allerdings hat auch alles seine Kehrseite.
Zu meiner Rechten erstrecken sich nun die blauen Weiten des Zürichsees. Ein Vorgeschmack auf das, was mich im warmen Land erwartet.
08:35 Uhr, Bludenz
Umringt von bewaldeten Hügeln, hat uns inzwischen ein Wolkenteppich locker zugedeckt. Grau und Grün wechseln sich hier wild ab, während verirrte Wölkchen hier und da an Berggraten hängen. Diese Etappe nutze ich, um meinen Italienischwortschatz durch Alltägliches zu ergänzen. Schließlich soll mein Studium der italienischen Sprache bereits vom ersten Tage an mit Feuereifer betrieben werden.
09:18 Uhr, St. Anton
Die Wolkendecke lockert zunehmend auf und die Sonne taucht die malerische Landschaft in ein klares Licht. Berg, Hügel, Täler, Bäume und dazwischen Häuschen und Hüttchen der Anwohner, die sich ameisengleich dazwischen kuscheln.
Die kurze Schwärze, wenn wir einen Tunnel durchfahren, gleicht einem Szenenwechsel eines Theaterstücks. Mit jeder Szene wird die Gegend alpiner, die Berge steiler, die Aussicht tiefer. Dichte, fast städtische Siedlungen wechseln sich mit Flächen ab, die locker mit Holzhütten bebaut sind. Flüsse und Straßen bohren sich durch Stein, Häuschen verstecken sich überall auf Anhöhen, hinter Baum und Fels.
09:45 Uhr, Ötztal
Stets begleitet von einem eisblauen Fluss, setzt sich der Trend vom immer steiler werdenden Bergmassiv fort. Der lockere Wolkenteppich hält sich beständig. In wenigen Minuten erreichen wir die nächste Etappe: Innsbruck. Dort habe ich ca. eine Stunde Zeit. Vielleicht reicht es ja, um einen schnellen Blick in die Stadt zu werfen, die sehr schön sein soll.
10:40 Uhr, Innsbruck
Ein kleiner Spaziergang vom Bahnhof weg reichte aus, um mir zu zeigen, dass neunzehn Kilogramm auf dem Rücken einen kurzen Abstecher unmöglich machen. Nach wenigen hundert Metern musste ich die Träger meines Rucksacks nachjustieren. Trotzdem drehte ich eine ziellose Runde, um mich langsam an das Gewicht zu gewöhnen. Nun harre ich am Bahnhof für die nächste Etappe aus.
11:30 Uhr, Innsbruck – Bozen
Mein natürliches Gefühl für Fehlerpotential und mein gesundes Misstrauen haben mich vor dem ersten großen Fauxpas der noch jungen Reise bewahrt. Laut meinem Handyticket führe der Zug, in dem ich jetzt wohlbehalten sitze, von Gleis 2. Also saß ich, mit aufkeimender Müdigkeit ringend, an besagtem Bahnsteig.
Noch zehn Minuten bis Abfahrt, von den anderen Passagieren keine Spur und die Anzeigetafel blau. Um nicht im sitzen einzuschlafen und wegen beschriebener Leere, nutzte ich die verbleibende Zeit, um die elektronische Abfahrtsanzeige zu konsultieren. Es sei noch angemerkt, dass auf den gedruckten Fahrplänen nie ein Gleis angegeben war, was zuvor bereits für Verwirrung gesorgt hatte.
Jedenfalls stellte sich heraus, dass ich am völlig falschen Gleis gewartet hatte. Abfahrtssteig war schließlich Gleis 7. Mich für meine Paranoia selbst lobend, schlurfte ich zu besagtem Bahnsteig, wo Passagiere sowie Anzeige bereits auf mich warteten. Nun geht es über den Brenner nach Bozen. Grün trifft hoch oben auf Blau, weiß gesäumt von jenseitigen Wolken.
Goethe stellte verschiedene Überlegungen an, wie Gebirge, Wolken und Wetter zusammenhängen. Nun bin ich kein Meteorologe, aber ganz unrecht hatte er nicht. Berge spielen eine Rolle. Allerdings ist seine Theorie, Gebirge hätten eine schwankende Anziehungskraft, etwas daneben gegriffen, wenngleich durchaus kreativ.
Mit großen Fenstern zu beiden Seiten spazieren wir nun auf Eisenrädern über Wald und Wiese, Berg und Tal. Mit „Wir“ meine ich stets mich und die anderen Reisenden in diesem Zug. Im Gegensatz zu meinem Vorgänger komme ich zwar schneller voran, teile mir meine Kutsche jedoch mit zahlreichen Mitreisenden.
Diese Eisenkutsche hat zudem diese kleinen Abteilungen in den Waggons, bei denen Konversation mit Fremden nahezu unvermeidbar ist. Praktischerweise sitze ich alleine, kann mich so in aller Ruhe in meinen Betrachtungen ergehen.
12:48 Uhr Innsbruck – Bozen
Nun hat mich der Schlaf doch noch übermannt. Die Spazierfahrt habe ich bisher also dösend verbracht. Eine Verzögerung eines Gegenzuges zwingt uns zu einem außerplanmäßigen Aufenthalt. Wir stehen also in einem Bahnhof, den ich nicht zuordnen kann.
Bozen direkt vor uns, verspäte ich mich schlussendlich doch noch. Dies habe ich in einer Mitteilung an das Personal im Hostel jedoch bereits angekündigt. Was ist schon eine Zugreise ohne Verspätung? Als Kunde der Deutschen Bahn wirkt pünktliches Ankommen auf mich wie eine paranormale Aktivität und ein Dimensionssprung in einem. Das Gute? Immerhin kann ich keinen Anschlusszug verpassen.
Wie der werte Goethe vernehme ich nun stark das Bilinguale Südtirols. Schilder sind zweisprachig und italienischer Gesang tönt aus einem Zugabteil. Der Schaffner, braun gebrannt und mit zurückgekämmter grau-schwarzer Halbglatze gestikuliert wild, die Menschen haben allgemein ein südländisches Erscheinungsbild. Diese Verschränkung des Österreichischen und des Italienischen in Sprache und Leuten ist mir eine wahre Freude.
Soeben erhielten wir die Durchsage, wir würden auf den Lokführer warten, der in einem verspäteten Zug sitzt. Somit ist eine Verspätung im Hostel vorprogrammiert. Ich kann nur hoffen, meine Reservation verfällt nicht.
13:27 Uhr, Brenner
Die Reise geht weiter. In dreiunddreißig Minuten sollte ich im Hostel sein. Die erste Bewährungsprobe meines Reiseglücks. Der laute Dialog, der in angeregtem Italienisch durch den Gang hallt, zeigt mir erneut: falls jemand zu schnell Italienisch reden sollte, muss ich diese Person unbedingt bremsen, da ich ansonsten nur herzlich wenig verstehe.
Goethe das alte Genie konnte bereits fließend Italienisch, noch vor seiner Ankunft in Tirol. Mein erster Kontakt mit meinem Vaterland macht mir schmerzlich bewusst, was für ein schändlich fauler Student ich doch bin. Sei es wie es sei. Auch kaltes Wasser ist nur Wasser und so kneife ich die Backen zusammen und tauche unter.
Die Lautsprecherdurchsage auf Italienisch markiert nun also für mich die Sprachgrenze. Soweit ich richtig verstanden habe, und ich hoffe ich irre mich, haben wir eine Verspätung von 70 Minuten. Ich kann also von Glück reden, wenn mein Bett noch da ist.
„Nun erblickte ich endlich bei hohem Sonnenschein, nachdem ich wieder eine Weile nordwärts gefahren war, das Tal, worin Bozen liegt. Von steilen, bis auf eine ziemliche Höhe angebauten Bergen umgeben, ist es gegen Mittag offen, gegen Norden von den Tiroler Bergen gedeckt. Eine milde, sanfte Luft füllte die Gegend. Hier wendet sich die Etsch wieder gegen Mittag. Die Hügel am Fuße der Berge sind mit Wein bebaut. Über lange, niedrige Lauben sind die Stöcke gezogen, die blauen Trauben hängen gar zierlich von der Decke herunter und reifen an der Wärme des nahen Bodens.“
– Goethe, Trient, den 11. September 1786, früh.
17:20 Uhr, Bozen
Die Stadt ist herrlich. Seit meiner Ankunft bin ich nahezu pausenlos in der Innenstadt und der Peripherie unterwegs gewesen, um mir einen Begriff der Verhältnisse zu machen. Die Stadt wirkt wie eine Miniaturversion einer durch und durch italienischen Großstadt.
Die Zweisprachigkeit ist einerseits stets ein Überraschungsmoment, andererseits einfach wunderbar. Und die Frauen… hier mischt sich italienische und österreichische Schönheit, in einem südlichen Klima und einer Szenerie, wie im Herzen Italiens. Es mag an meiner Stimmung liegen, aber mir erscheinen hier selbst die weniger schönen Frauen alles andere als unansehnlich, darüber hinaus scheinen sie die Ausnahme zu bilden.
Doch der Reihe nach: meine Ankunft im Hostel verlief trotz Verspätung reibungslos. Die Unterkunft ist mehr als ich erwartet hatte, was den Preis wieder gerecht erscheinen lässt. Das nette Mädchen am Empfang hat mir den goldenen Tipp für das Batzenbräu Brauhaus gegeben, wo ich mich in diesem Moment befinde.
Das Weizenbier ist vorzüglich. In diesem Gasthaus wird das Bier selbst gebraut. Auch das Essen soll gut sein, wovon ich mich in Kürze überzeugen werde. Ein ständiger Geruch von fermentiertem Hopfen umspielt meine Nüstern, was meinen bisher unbemerkten Hunger nach und nach entfacht.
Der Innenhof des Batzenbräus ist ein willkommener schattiger Ort, abseits des Trubels der Innenstadt, wenngleich hier nichts wirklich weit auseinander liegt. Ich bin gespannt, ob mein ausgedehnter Spaziergang bereits den ersten Sonnenbrand auf den Wangen provoziert hat.
Von Marco Lo Voi