Das Wunder des Lebens erblickt das Tageslicht
Der Sommer steht vor der Tür. Er zögert, doch seine schüchternen Strahlen wirft er bereits durch den Türspalt, der immer breiter zu werden scheint, bis letztlich die warme Jahreszeit in ihrem goldenen Gewand im Türrahmen steht.
Mutter Natur wirft sich den grünen Mantel über die braune Haut, bestickt den grüner werdenden Flickenteppich mit bunten Mustern und lässt ihr liebliches Lied von den Wipfeln ihrer alten Kinder erklingen.
Das Wunder des Lebens, das ja im Grunde, wenngleich in einen tiefen Schlafe verfallen, im Winter nicht stillsteht, hält wieder Einzug. Mit sonnenempfangender Gestik spreize ich die Glieder vom gewärmten Leib und lasse ihre Energie auf mich wirken.
Auf den Grünflächen der Stadt tummeln sich wieder jung und alt, Tier und Mensch, Freunde und Verliebte. In diesen ersten warmen Tagen fallen mir jedoch junge Eltern mit ihren Neugeborenen und Kleinkindern verstärkt ins Auge.
In bunte Tragetaschen verpackt, auf wackligen Beinchen die Wunderdinge der Welt erkundend, in Kinderwägen kutschiert oder umhertobend, prägen sie für meine Wahrnehmung derzeit die Szenerie der wiederkehrenden Lebensgeister, die in die grauen Schluchten der Stadt Einzug halten.
Ehrlich gesagt kann ich einem Neugeborenen nicht ganz so viel Liebe entgegenbringen, wie es viele andere Menschen können. Ja es gab eine Zeit, da wusste ich rein gar nichts mit ihnen anzufangen.
Doch mit Kindern, die bereits im sprachfähigen Alter sind, mit dieser Altersgruppe verstand ich mich als Älterer schon immer ganz ausgezeichnet. Ob nun als Trainer einer kleinen Inlinehockey-Mannschaft oder als Praktikant im Kindergarten.
Unwissenheit
Allerdings gibt es ja Mitmenschen, die immer behaupten, sie würden nur mit Älteren klar kommen. Sicher, das ist ihr gutes Recht und dagegen gibt es keinen berechtigten Einwand, da dies nun mal subjektiv bedingte Wahrnehmung ist, auf die man als Rezipient nur als Objekt reagieren kann. Dies sei nur erwähnt, um mögliche Missverständnisse zu minimieren.
Worauf möchte ich hinaus? Dies soll jenen Menschen ein Weckruf sein, die, wie eingangs erwähnt, keinerlei Sympathie, ja geradezu eine Antipathie gegenüber jungen und ganz jungen Mitmenschen hegen.
Jeder kennt sie. Darstellungen in Film und Fernsehen, im realen Leben aus eigenen Erfahrungen, aus Erzählungen und Geschichten. Erwachsene die Kinder als minderwertige Subjekte betrachten, ihnen keinen Glauben schenken, sie missachten, verachten oder im schlimmsten Fall, aus beliebigen Gründen körperliche Schäden zufügen.
Ich unterstelle niemandem – ich wiederhole, niemandem – böswillige Absichten. Richtig und Falsch. Böse und Gut. Sicherlich Gegenstände die mit einiger Philosophie verschiedentlich gedeutet werden können.
Nichtsdestotrotz gibt es Handlungen, die schlichtweg negativ sind. So sind dies beispielsweise nach den buddhistischen Lehren, alle Handlungen die Leid, in jeder Form, hervorrufen. Körperlich, seelisch, an Subjekt wie an Objekt, Ich, Du, Er, Sie, Es, Wir, Ihr, Sie, ohne Ausnahme.
Ein Mensch der Handlungen dieser Art vollzieht, ist dennoch nicht gleich böse. Taten dieser Art entstehen aus Unwissenheit. Unwissenheit um die Wahrnehmung des Gegenüber. Unwissenheit um die Seele, den Geist und den Körper des Objekts, das zugleich ja für sich selbst ein Subjekt ist.
Der Prozess des Vergessens
Also sind Menschen die Kinder hassen keine böswilligen Menschen. Sie leiden lediglich verstärkt unter dem natürlichen Prozess des Vergessens. Das Vergessen um die eigene Kindheit. Das Vergessen um das eigene Kindsein. Das Vergessen um die eigenen Wurzeln.
Vergessen ist eine ganz natürliche Angelegenheit, die mannigfaltigen Ursprung hat, dessen Ausführungen hier den Rahmen mehr als sprengen würden. Das Vergessen als solches ist jedoch nur eine Ausprägung der Unwissenheit. Somit ist ein Mensch, der kurzerhand als böse markiert wurde, nun zwar nicht unschuldig, jedoch entschuldigt, zugleich impliziert dies die Möglichkeit der Wiedererlangung dieses vergessen geglaubten Wissens.
Man blickt in die eigenen Augen, die uns von einem Foto aus unseren Kindertagen anschauen und erkennt sich selbst nicht wieder. Ist man nicht mehr der selbe Mensch? Ja und Nein. Eine Frage, die vielleicht in einem anderen Schriftstück Klärung findet.
Was feststeht ist, dass wir selbst einmal ein kleiner Knirps oder eine kleine Knirpsin waren, der/die auf die Liebe unserer Mitmenschen angewiesen war. Ohne Liebe – wie es ein ethisch verwerfliches Experiment bewiesen hat – muss ein Säugling sterben, wenngleich er die nötige körperliche Nahrung erhält.
Die seelische Nahrung, wie sie die unabdingbare Liebe einer Mutter ist, oder die schützenden Hände eines Vaters sind, oder die Wärme der familiären Atmosphäre ist, ist ein essentieller Baustein, den jeder Mensch durch das eigene Aufgezogenwerden ‚‚in die Wiege gelegt bekommt‘‘.
Das Kind in Jedem von uns
Dies soll kein Aufruf sein, dass jeder nun Kindergärtner werden oder sofort fünf Kinder in die Welt setzen soll, obwohl beides sehr erstrebenswerte Ziele sind. Sondern eine Erinnerung an vergessen gegangenes Wissen. Eine Rührung an Empfindungen, die in JEDEM Menschen stecken. Lege deinen unbegründeten Zorn, deine Wut und deine Entnervung ab, die Kinder manchmal in dir hervorrufen und mache dir bewusst, woher du selbst stammst.
Man kam nicht so auf die Welt, wie man gerade diese Zeilen liest. Jeder Baum war ein am Anfang nicht viel größer als ein Staubkorn.
Wer Kinder verachtet, verachtet die eigene Existenz.
Wer Kinder meidet, zeigt sich undankbar gegenüber dem eigenen Leben.
Wer Kinder hasst, hat vergessen, was es heißt Mensch zu sein.
Es ist das Wunder des Lebens, was alles und jeden durchdringt. Spende diesem Wunder wenigstens einen Gedanken am Tag, einem Kind ein Lächeln und einem Baum einen stillen Gruß.
von Marco Lo Voi