Der Kampf um das Bewusstsein! – Dutschke und Gaus: Ein monumentales Gespräch

Bestimmt schon über zehn Jahre ist es her, da ich dieses Gespräch zum ersten Mal sah. Damals war ich ein junger Student und nicht halb so belesen, wie ich es heute bin. Dementsprechend konnte ich den vollständigen Gehalt des hier thematisierten Interviews nicht begreifen. Allerdings hat es mein damaliges politisches Empfinden tief geprägt und mich in eine solche Ehrfurcht vor der Brillianz versetzt, die ein damals noch junger Rudi Dutschke (1940-1979) schon vorzuweisen hatte und welch gestochen scharfe und kritische Interviewführung sein Gesprächspartner Günter Gaus (1929-2004) dagegenhielt. Dieses Spannungsfeld macht dieses Gespräch auch heute noch sehenswert. Es wurde am 3. Dezember 1967 im Abendprogramm des ARD ausgestrahlt:

In diesem Beitrag möchte ich eine Analyse dieses Gesprächs versuchen. Man könnte Abhandlungen darüber schreiben, also konzentriere ich mich auch die für mich zentralen Elemente. Doch zuvor möchte ich für die Leserinnen und Leser, die, so wie ich selbst, zum vergleichsweise jüngeren Semester gehören und vielleicht gar nicht genau wissen, wer Dutschke eigentlich ist und warum seine Person so erinnerungswürdig ist, seine Figur kurz geschichtlich einordnen.

Die 68er-Revolution – Eine Kurzzusammenfassung

Die sogenannte 68er-Bewegung war eine internationale Angelegenheit. Wie so vieles schwappte sie irgendwann über den großen Teich auch auf Deutschland über und entfaltete hierzulande eine eigene Dynamik. Mehrere Faktoren eskalierten die mitunter gewaltsamen Proteste, die von einer linksgerichteten, mehrheitlich studentischen Jugendbewegung ausging.

Die Parallelen zu heute und vor allem zu den Corona-Krise-Jahren sind erstaunlich. Themen, die die 68-er Bewegung umtrieben, waren zu Beginn vor allem die soziale Ungleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg, eine grundlegend anti-kapitalistische Haltung, die im geteilten Deutschland auf der West-Seite natürlich als sozialistische Ost-Tendenz angesehen wurde, ein progressiver, anti-autoritärer Geist durchwehte die Bewegung.

Es ging außerdem um die sogenannte „Spiegel-Affäre“, bei der ein Spiegel-Journalist nach einem kritischen Artikel gegen die Bundeswehr wegen Landesverrats festgenommen wurde. Damit kam auch das Thema Pressefreiheit auf die Agenda der Bewegung. Der Axel-Springer-Verlag, damals auf der konservativen Gegenposition wurde bezichtigt, durch seine Hetzkampagnen außerdem mit am Tod von Benno Ohnesorg verantwortlich zu sein, der von einem Polizisten erschossen wurde und auch das Attentat auf eben jenen Rudi Dutschke sei den Medien zur Last zu legen, da sie sich an einer „gezielten Hetze“ und „Diffamierung einer Minderheit“ beteiligt hätten (Quelle).

Rudi Dutschke überlebte das Attentat, doch starb an den Spätfolgen. Es ist traurig aber meines Erachtens leider logisch nachvollziehbar, dass sein Name und die Ideale, für die er stand, in der heutigen Linken leider keine nennenswerte Rolle mehr spielen. Meiner Auffassung nach war Dutschke seiner Zeit weit voraus. Mittlerweile ahne ich leider auch, dass sogar die heutige Gesellschaft eventuell immer noch nicht reif sein könnte, die Essenz seiner Botschaft wirklich verstehen zu können. Dennoch ist es mir ein Anliegen, mit diesem Beitrag einige Aspekte seiner revolutionären Sicht für die heutige Gesellschaft aus meiner Perspektive wiederaufzubereiten.

Gaus‘ Vorwort

Alleinig das Vorwort für sich ist schon bemerkenswert. Gaus, der in dieser Interviewreihe wirklich alle großen Namen seiner Zeit im Laufe der Sendeperiode zu Gast hatte, stellt die offene Frage, ob es ein Grund sein könne, nicht mit Dutschke zu sprechen, weil er der Wortführer einer nur kleinen Minderheit innerhalb einer sehr kleinen studentischen Gruppe sei? Kurz: Ist die Person „Dutschke“ nicht uninteressant, weil unwichtig? Diese Frage stellt er im öffentlich rechtlichen Fernsehen weniger als ein Jahr, bevor Dutschke Opfer eines Attentats wird. Zudem seien die Argumente dieser kleinen Gruppe allein oft schon Grund, sie als potentielle Gesprächspartner auszuschließen. Das lasse ich mal so stehen.

Dennoch möchte er „dahinterkommen, was diese jungen Leute, diese Revolutionäre, was sie sein wollen, ganz bewusst sein wollen„. Das ist eine äußerst löbliche, offene Haltung, an der es in der heutigen Zeit im öffentlich Rechtlichen stark mangelt. Heutzutage wird sogar eine nach der letzten Bundestagswahl nun zweitstärkste Kraft im Bundestag konsequent von einem politischen Dialog ausgeschlossen und in die Opposition gedrängt. Günter Gaus ist hier ein Vorbild dahingehend, dass er auch radikal Andersdenkende wirklich verstehen will und sie nicht mit abwertenden Worten abtut. Seine Gesprächsführung ist zwar kritisch, mitunter sicher auch bewusst provokant, aber das ist ja auch wünschenswert, weil er dieselbe kritische Haltung auch seinen anderen Gesprächspartnern gegenüber einnimmt. Ein Beispiel hierfür wäre sein Interview mit der jungen Angela Merkel (Quelle).

Minute 02:30 – 04:20: Gesprächseröffnung

Gaus eröffnet gleich mit der gnadenlos grundlegenden Frage: „Sie wollen die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik von Grund auf ändern. Alles soll anders werden. Warum?“ Dutschke verneint nicht, sondern beginnt seine Antwort mit einem „Ja,…“ neigt sich nach vorne und seine Haltung verrät, dass er mit gewohnt hoher Konzentration einen massiven Gedankenkomplex auf die Essenz zu sublimieren sucht, indem er mit einem historischen Beispiel beginnt. Er zeigt auf, dass es historisch zwar schon eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer gab, indem die Arbeitszeit 1918 auf 8 Stunden festgelegt wurde, aber ungefähr 50 Jahre später würden die Arbeitnehmer in etwa ähnlich viel arbeiten müssen, obwohl die Produktionsmöglichkeiten („Produktivkräfte“) wie Maschinen, Arbeitsteilung, etc. vielfach größer geworden seien. Eigentlich müsste die Arbeitszeitreduzierung ja in gleichem Maße fortschreiten. Das tat sie aber nicht. Und sie tut es bis heute nicht, obwohl die Produktivkräfte heute ja nochmals um ein Vielfaches gesteigert wurde und durch die K.I. nun nochmals einen astronomischen Sprung machen wird. Nichtsdestotrotz sprechen wir in Deutschland und der Schweiz immer noch von einer 40-Stunden-Woche.

Warum sie das anscheinend nicht tat, sei – und hier haben wir auch gleich schon den Dreh- und Angelpunkt des gesamten Gesprächs und meinem Verständnis nach den zentralen Punkt in Dutschkes politischem Programm – Absicht, um die Arbeiterinnen und Arbeiter in einer „Bewusstlosigkeit“ zu halten. „Im Interesse der Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaftsordnung wird die Arbeitszeitverkürzung […] hintangehalten, um Bewusstlosigkeit […] aufrechtzuerhalten.“ Damit greift Dutschke das marxistische Konzept der „Selbstentfremdung“ auf, die einsetze, wenn der Arbeiter seiner monotonen kleinteiligen Arbeit viele Stunden nachgehe, ohne das große Ganze, das Ergebnis seiner Hände Arbeit wirklich zu sehen. Er stumpft ab. Heute wird dieser Effekt durch die allgegenwärtige Unterhaltungsindustrie in Form der Smartphones ergänzt und verstärkt, sodass der Begriff „Smartphone-Zombie“ – kurz „Smombie“ – ja fast schon umgangssprachlich geworden ist (Quelle).

Das nächste historische Beispiel, das Dutschke aufgreift, ist die politische Situation der Zeit, in der das Interview entstand. Man habe dem Volk versprochen, das damals noch geteilte Deutschland werde wiedervereinigt, aber stattdessen hätten Politiker die Bevölkerung darüber immer wieder getäuscht, da bis dato keine Wiedervereinigung stattgefunden habe. Er nennt die Regierungen „institutionalisierte Lügeninstrumente, Instrumente der Halbwahrheiten, der Verzerrung. Dem Volk wird nicht die Wahrheit gesagt. Es findet kein Dialog mit den Massen statt.“ Er zitiert dann noch einzelne Polit-Termini und zeigt auf, was sie seiner Meinung nach damit eigentlich meinen.

Dass Politiker zu „Halbwahrheiten“ und „Wahlkampf-Versprechen“ neigen, die sich im Nachhinein dann als Luftschlösser entpuppen, ist ja ein alter Hut. Dennoch ist es bis heute immer wieder erstaunlich, wie die Mehrheit der Menschen dann periodisch immer wieder dem Polit-Establishment ihr Vertrauen schenkt. Jüngstes Beispiel ist die „noch“ stärkste Kraft CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Merz. Ungefähr 24 Stunden nach dem „Wahlsieg“ der CDU bricht Merz so dermaßen dreist ein Wahlkampf-Versprechen, dass dies nicht mehr schönzureden ist (Quelle). Dass dies in der Vergangenheit immer wieder von Politikern vielleicht nicht in dieser dummdreisten Offensichtlichkeit getan wurde, spielt hierbei scheinbar eine nebengeordnete Rolle. Nun müsste es eigentlich der und dem letzten klar werden, dass Politikern schlicht nicht zu trauen ist. Dies wusste Dutschke offensichtlich schon 1967 und hat dies auch drastisch formuliert.

Dutschke geht noch weiter. Er sagt, Parteien seien Instrumente „um die bestehende Ordnung zu stabilisieren, einer bestimmten Apparatschicht von Parteifunktionären es zu ermöglichen, sich aus dem eigenen Rahmen zu reproduzieren und so also die Möglichkeiten, dass von unten Druck nach oben und Bewusstsein nach oben sich durch setzen könnte, qua Institution der Parteien schon verunmöglicht wurde. […] viele Menschen sind nicht mehr bereit, in den Parteien mitzuarbeiten, und auch diejenigen, die noch zur Wahl gehen, haben ein Unbehagen gegenüber den Parteien und jetzt bauen sie noch ein Zwei-Parteien-System und dann ist es endgültig vorbei.“

Es ist für mich wirklich erschreckend faszinierend, mit welch fast prophetischer Klarsicht Dutschke die heutige Situation schon vorausgesehen hat. Was hat er hier gesagt? Dutschke beschreibt hier, wie Parteien die Machtverteilung nicht stetig neu verhandeln und der Bevölkerung in ihrer Entwicklungsdynamik nicht helfen, die sich stetig verändernde Gesellschaftsrealität zu bewältigen, sondern den „Parteifunktionären“ dienen, um die sich erarbeiteten Verhältnisse zu verstetigen. Dies funktioniert nur, wenn die, die derzeit „oben“ sind, sich vom von „unten“ kommenden „Druck“ abschirmen und ihn „unten“ halten. Das geschieht, indem das „Bewusstsein“ unterdrückt – nach „unten“ gedrückt – wird. Die Stellschraube, die Dutschke hier identifiziert, ist die Arbeitslast, die jedem Gesellschaftsindividuum auferlegt wird, obwohl diese sich theoretisch bei gleichbleibender Produktivität vermindern könnte, weil die Produktivkräfte sich ja stetig erhöhen. Stattdessen wird der „Mehrwert“ der Arbeit im marxistischen Sinne als steigende Gewinne durch die Kapitalisten abgeschöpft.

Zugleich sorgt die sogenannte Partei-Linie oder der nur inoffiziell existierende Fraktionszwang dafür, dass die Parlamentarier, auch wenn sie laut Grundgesetz nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet sind, vorrangig im Sinne der Parteien agieren, insofern sie ihre Position beibehalten möchten. Aktuelles Beispiel wäre Sarah Wagenknecht, die aus meiner Sicht konservativ-linke, also „originär-linke“ Ansichten vertritt und aus der Linkspartei hinausgedrängt wurde, und sich folglich gezwungen sah, eine neue Partei zu gründen, um die von ihr vertretenen Werte aufrechterhalten zu können.

Weicht man also von der Parteien-Linie ab, und sei man auch die Speerspitze der Partei selbst, verliert man sehr schnell seine Position. Darum sehen wohl viele Politikerinnen und Politiker eher davon ab, abzuweichen oder auszubrechen. Im Bereich der Judikative und der Exekutive haben wir in den letzten Jahren ebenfalls zahlreiche Beispiele erlebt. In der Folgefrage von Gaus elaboriert Dutschke das bereits gesagt nochmals und verdeutlicht, dass er das parlamentarische System ablehnt, was in den Ohren der Demokraten seiner Zeit und vermutlich auch denen unserer Zeit wohl blasphemisch, ja anti-demokratisch anmuten muss. Polit-Kommentatoren unserer Zeit sprechen in Bezug auf die „Brandmauer“, die gegen die AFD erbaut wurde, schon quasi von einem „Zwei-Parteien-System“, das da lautet „Alle gegen die AFD“. Scheinbar ist das Machtkalkül einzelner Politiker unseres Landes dann aber, wenn es darauf ankommt, egozentrischer ausgerichtet.

Minute 7:00 – 10:50: Dutschkes Gegenentwurf zur parlamentarischen Ordnung

Im Folgenden möchte Gaus herausfinden, was Dutschke und seine Leute dagegenhalten. Dutschke eröffnet seine Erläuterung erneut mit einer ganz grundlegenden Aussage, die wiederum eine Essenz des darauffolgenden Elaborats darstellt. Diese, seine, Gesellschaftsordnung sei ein „langfristiges Prozessresultat“, weshalb er, der Logik der Sache geschuldet, kein fertiges Konzept liefern kann. Aber er hat ein Gerüst („Gliederungsstrukturen“) erarbeitet, die die Voranbringung des Prozessresultats begünstigen. Zunächst seien in Dutschkes „Organisationen“ keine Berufspolitiker tätig, sodass man hierbei nicht von einer Partei sprechen kann, in denen ein „Apparat“ entstehen könne. Und so sei es nicht möglich, dass sich ein Interessen-Geflecht (Lobbyismus) bilden könne. Somit stehe jeder Beteiligte dieser Organisation nur für sich und seine Individual-Interessen.

Gaus hakt nach und fragt, wie Dutschke dieses Interessen-Geflecht verhindern möge, wenn doch eine Bewegung von einer bestimmten Größe immer einen Apparat habe. Dutschke kontert, indem er nicht die Frage beantwortet, sondern die Prämisse, eine Bewegung müsse einen Apparat entwickeln, in Frage stellt und verneint.

„Es hängt von der Bewegung ab, ob sie in der Lage ist, die verschiedenen Stufen ihrer Entfaltung mit den verschiedenen Bewusstseinsstufen ihrer Bewegung zu verbinden; genauer: wenn wir es schaffen, den Transformationsprozess , einen langwierigen Prozess, als Prozess der Bewusstwerdung der an dem Prozess Beteiligten zu strukturieren werden die bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen geschaffen, die es verunmöglichen, dass die Eliten uns manipulieren, dass es eine neue Klasse gibt.“

Immer wieder fällt bei Dutschke der Begriff „Bewusstsein“. Dieser Umstand lässt Dutschke, in einen anderen Kontext gesetzt, beinahe spirituell wirken. Was meint er hiermit? Er versucht zu verdeutlichen, dass das Individuum selbst in der fundamentalen Verantwortung steht, aktiv eine Bewegung zu gestalten, um mit der Fortentwicklung durch aktive Teilhabe nicht nur die Sache, sondern auch sich selbst zu entwickeln, anstatt immer nur passiv und unmündig den gesellschaftspolitischen Status-Quo hinzunehmen oder blind hinter Galionsfiguren und Anführern hinterherzutrotten oder von ihnen manipuliert zu werden. Jeder weitere Schritt in der Erarbeitung dieser neuen Gesellschaftsordnung wirft neue Fragen auf. Die gesellschaftliche Beantwortung dieser Frage ist dann aktive Aufgabe jedes Individuums des Kollektivs. Dadurch wächst das Vermögen und die Einsicht in diesen Prozess und damit ein Nährboden für neue und weitere Ideen und möglichen Antworten. Dies ist der Grund, warum Dutschke keine finales Bild dieser Gesellschaft zeichnen kann, weil es ein dynamischer Prozess der Entfaltung ist, der von sehr vielen Außen-Faktoren und gleichzeitig von jedem Individuum beeinflusst werden kann.

Sogleich kommt Gaus dann auch auf die Frage von Dutschkes Menschenbild zu sprechen. Dutschkes sieht den Menschen als durchaus in der Lage, die geschichtlichen Entwicklungen zu gestalten, mehr noch, er „hat sie ja schon immer gemacht, nur hat er sie nicht bewusst gemacht“. Und wie agiert und wir regiert dieser Mensch, oder aber wer regiert diesen Menschen? Dutschkes Antwort: „Er führt sich!“ Die Repräsentanten dieses Menschen können jederzeit abgewählt werden und nicht nur alle vier Jahre aus einer ausgelesenen und sich selbst reproduzierenden Auswahl bestätigt werden oder nicht. Der Mensch müsse zudem ein Bewusstsein dafür entwickeln, überhaupt die Möglichkeit zu haben, dies zu tun. Der Satz „Ich kann doch eh nichts ändern“, der häufig Ausdruck einer Politikverdrossenheit ist, kann dann nicht mehr als Ausrede dafür hergenommen werden, weiterhin in der Passivität herumzudümpeln.

Sowohl die Menschen der 70er als auch die die Menschen unserer Zeit können wohl etwas mit dieser bloßen Annahme anfangen, selbst in einer Form der Führungsverantwortung für die Gesellschaft zu stehen. Wir sind so stellvertreten, dass wir schon vergessen haben, dass den Stellvertretern die Führungsrolle ja von der Gesellschaft übertragen wurde. Fast wie Truchsess Denethor bei Herr der Ringe, der sich schon so an den Königsthron gewöhnt hat, sodass weder er noch die Regierten sich vorstellen können, der „wahre“ König könne wieder in die Regierungsverantwortung treten. Das „Volk“ ist in dieser Metapher noch eher mit „Streicher“ aus dem ersten Teil als mit König Aragorn aus Teil drei zu vergleichen.

10:50-14:30: Vom Menschen zur Welt

Gaus Wortwahl zeigt, wie hier ein zwar aufgeschlossenes, aber konservativ-materialistisches und nationalstaatliches Weltbild einerseits und ein progressiv-liberales und universell-humanistisches Weltbild andererseits aufeinanderprallen. Nämlich, in dem Gaus fragt, welche Grundeigenschaften aus dem Menschen „herausoperiert“ werden müssten, „damit sie das leisten können, was Sie von ihm erwarten?“ Die Worte „herausoperiert“ insinuieren, dass es einen Operateur gäbe, dass Dutschke selbst dieser Gedankenchirurg sei, der den Menschen beschneiden, verbiegen, umgestalten will, um damit einen leistungsfähigeren Menschen zu erschaffen. Diese Wortwahl erinnert Dutschke vermutlich noch viel stärker als uns heutzutage an die brutalen Eugenik-Experimente der Nationalsozialisten und sind von Gaus hier sicherlich sehr bewusst gewählt, um Dutschke zu provozieren und in die Ecke zu drängen. Und es wirkt, was man an den körperlichen Reaktion Dutschkes ablesen kann.

In seiner Wortwahl und seinem Duktus bleibt er aber ruhig und kontert, es müssten keine Eigenschaften „weggenommen“ sondern die „unterdrückten endlich frei werden können.“ Diese wären: Hilfsbereitschaft, Vernunftbegabtheit und Gebrauch derselben und somit auch Emanzipation von Fremdbestimmung. Wie wollen Dutschke und seine Leute das erreichen?

Sie verbänden Aufklärungsarbeit mit Aktionen. Die Aufklärung bestehe darin, nicht nur die nationale Perspektive abzubilden, sondern den Blick zu erweitern und auch die internationale Ebene einzubinden. Er sagt, es würden den Menschen in dem, was wir heutzutage als „Mainstream“ bezeichnen, Informationen systematisch vorenthalten – heute auch unter dem Begriff „Lückenpresse“ bekannt. Uns würde nicht zu viel Information, sondern nur lückenhafte Ausschnitte der Realität zu Verfügung gestellt, die zudem noch unstrukturiert seien. Diese Umstände hat Dutschke erkannt und möchte also eine Öffentlichkeit herstellen, die aufzeigt, dass mit ergänzenden Informationen und deren Rekontexualisierung im Gesamtzusammenhang ein neues Bild entsteht, das die Beteiligten bewusst wahrnehmen – im Prinzip also das, was die „Alternativmedien“ sich häufig auf die Fahne schreiben. Dass sich auch in diesen „Neuen Medien“, die in den letzten Jahren stark gewachsen sind, dieselben von Dutschke beschriebenen „Unbewusstheiten“ bereits stark entwickelt haben, soll hier nicht weiter diskutiert werden.

Was sei nun also der Unterschied von Dutschkes Ansinnen und denen vergangener Revolutionsbewegungen? Es sei weniger die Bewegung selbst, als die zeitgeschichtliche Epoche, in der Dutschke agiere. Vormals seien Revolutionen national orientiert gewesen, Dutschke sieht aber bereits in den 70ern, dass sogar das noch geteilte Deutschland nicht mehr als Nationalstaat zu begreifen sei, sondern dass das, was man heutzutage „Geopolitik“ nennt, die eigentlich entscheidende Ebene sei – als Beispiel nennt er hier den NATO-Beitritt Westdeutschlands. Dann geht er noch einen Schritt weiter und zeigt auf, wie der sogenannte „Westen“, die Industrieländer, die eine Hälfte der Welt, die andere Hälfte ausbeutet und unterdrückt und somit internationale Konflikte weiter anheizt.

Gaus versucht, Dutschkes Idee mit dem Internationalen Kommunismus gleichzusetzen, der ja eben auch international sein wollte. Nach Dutschke konnte er das jedoch nicht, wohingegen dies seiner Zeit möglich sein soll. Nicht aber, weil der Nationalstaat überall, wie Gaus fragt, überwunden sei, denn die Idee eines Nationalstaates sei, so Dutschke, im Bewusstsein der Menschen verankert. Darum zielt Dutschkes Ansatz auch auf das Bewusstsein ab.

14:30 – 18:00: Der lange Marsch durch die Institutionen

Diesen Abschnitt möchte ich ausnahmsweise kurz zusammenfassen. Das, was als „langer Marsch durch die Institutionen“ bekannt geworden ist, wird in diesem Abschnitt besprochen. Gaus versucht, Dutschke auf Aussagen und „Versprechungen“ festzunageln, indem Dutschke einen Zeitrahmen festlegen, ein konkretes „Wie“ formulieren soll, um einen Gradmesser zu haben, wann diese Bewegung als gescheitert zu erklären ist. Dutschke agiert besonnen und lässt sich nicht darauf ein, er sagt, der Marsch sei lang, aber deswegen würden sie ihn trotzdem antreten. Dies könne gewaltfrei ablaufen, da der Marsch etappenweise vollzogen werde und nur immer fortschreiten könne, wenn Bewusstseinsentwicklung sich parallel vollzöge. Und wenn dies nicht geschehe, so müsse die Bewegung wohl scheitern und eine historische Periode sei eben verloren. Und so geschah es dann leider auch.

18:00 – 24:00: Minderheiten und Mehrheiten

Dieser Abschnitt ist für mich persönlich nicht von vergleichbarer Wichtigkeit, wie die vorangegangen. Hier geht es um politisch „Links“ und „Rechts“, um den Umstand, dass Gewalt immer nur ein Mittel von Minderheiten-Revolutionen sei. Deswegen werde Gewalt oder Zwang kein Mittel von Dutschke sein. Gleichzeitig erhebe er auch nicht den Anspruch, Gesamtbevölkerungen aufzuklären. Kurzum: er selbst, das vermute ich, glaubte nie, er würde die Früchte seiner Arbeit je selbst ernten können. Deswegen ist er auch kein Fanatiker, der schnelle Erfolge sehen will, sondern den Menschen über die Prozesshaftigkeit und die Notwendigkeit der Selbstentwicklung über Selbsterfahrung aufklärt. Ja, sie wären zunächst eine Minderheit, aber es bestehe die Chance, zu einer Mehrheit zu werden – und das brauche viel Zeit.

24:00 – 28:30: Der Revolutionskampf

Dutschke wird in diesem Abschnitt mit der Frage konfrontiert, ob er bewaffnet für seine Ideale einstehen würde. Er antwortet wie folgt: In der Hoffnung, in der Bundesrepublik keine Waffen einsetzen zu müssen, appelliert er an die Verwalter der bestehenden Ordnung, den Konflikt nicht zu eskalieren, sodass er und seine Leute sich gezwungen sehen, ebenfalls mit Waffengewalt zu antworten. Wenn aber die BRD weiter im geopolitischen Spiel der NATO mit eskalieren wird, dann sei auch Dutschke bereit, die Waffe in die Hand zu nehmen.

Auf die Frage, warum er nicht einfach hinschmeiße, wenn Dutschke doch bereits vorausahnt, dass es im geopolitischen Spiel zunächst zu weiterer Gewalt kommen wird. Er hält revolutionär dagegen: die Menschen können dieses Spiel beenden und seien diesem drohenden Verlauf eben nicht auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Das ist seine Überzeugung. Die Geschichte sei nicht „ein ewiger Kreisel, wo das Böse immer triumphieren muss„. Er zeichnet eine Utopie ohne Kriege, ohne Hunger, wie es sie noch nie gegeben habe. Das sei „eine geschichtliche Möglichkeit„, wie er immer wieder betont.

Weiterhin versucht Gaus, Dutschkes Ansatz mit dem Lenins gleichzusetzen und Dutschke argumentiert, dass zwar das ideologische Fernziel des Lenin-Sozialismus vielleicht auch Weltfrieden gewesen sei, aber die Gesellschaftsrealität zur Zeit Dutschkes sei eine gänzlich andere, wesentlich komplexer und außerdem ist es der ureigentliche Ansatz Dutschkes, niemals mit Zwang Mehrheiten zu unterdrücken.

28:30 – 30:30: Dutschke und die Religion

Gaus geht über zu dem Ausgang des gesellschaftlichen Wirkens von Dutschke, das sich in der christlichen Religionsgemeinde begründete. Die Religion „spielte“ für ihn in der Tat ein große Rolle. Sie sei aber eine „phantastische Erklärung des Wesens des Menschen und seiner Möglichkeiten„, aber es sei ja notwendig, die Erklärung realgeschichtlich zu verwirklichen. Zwischen den Zeilen kann herausgelesen werden, dass er sich von diesen Erklärungen nicht abgewandt hat, sondern nun den Transfer anstrebt. Dutschke wählt den Begriff „phantastisch“ hier vermutlich sehr bewusst. Ich schätze, er meint dies im Sinne von „ideell“, also rein geistig.

Sie sind nach wir vor ein Christ.“ konstatiert Gaus daraufhin. Dutschke möchte sich nicht auf diesen Begriff beschränken lassen und stellt die Gegenfrage, was denn heute überhaupt mit „Christ“ gemeint sei? Es eint Marxisten und Christen der Wunsch nach Frieden. Und so meine ich herauszuhören, dass er sich eher als Marxist als als Christ identifiziert, zugleich aber hier nicht die Unterschiede sondern die Gemeinsamkeiten betont. Gaus fällt ihm ins Wort und stellt die etwas allgemeinere aber hochinteressante Frage, welche Rolle die Transzendenz für Dutschke spiele.

Und so entpuppt sich Dutschke als ein eher geschichtlich orientierter religiöser Mensch, für den die Glaubensfrage keine Frage ist. Wohl eher eine Annahme. Ihn interessiere mehr das Wirken von Jesus, welche Ideale er verkörperte und wie er diese vermittelte – also, wie Jesus das Ideelle ins Realgeschichtliche übertrug. Gleichsam sei der Begriff „Transzendenz“ ebenfalls für ihn eine von zeitgeschichtlicher Relevanz. Wie kann die Ist-Gesellschaft „transzendiert“ werden, also aus sich selbst heraus fortentwickelnd, zu einer neuen Gesellschaftsform begleitet werden – sozusagen eine „materialistische Transzendenz„. Mitleid sei kein Antrieb für Dutschke, sondern Hilfsbereitschaft und Solidarität. Gerne würde ich ihm das Wort „Mitgefühl“ hier vorschlagen.

30:30 – 33:40: Von der Parlamentskritik zum Nationalsozialismus

Der nächste Abschnitt wird durch die Frage eröffnet, was in Dutschke „den meisten Abscheu“ hervorgerufen habe, als er nach Westdeutschland kam. Dazu muss man wissen, dass Dutschke aus der DDR in die BRD gegangen war, weil es in der DDR für ihn politisch unbequem wurde. Er wiederholt an dieser Stelle eigentlich nur den Grund für sein politisches Engagement, nämlich, dass die Parteien ihn, wie oben bereits ausgeführt, enttäuscht hätten, sodass er einen anderen Weg einschlug, politisch wirksam zu werden.

Gaus hält dagegen, dass die Menschen ja immerhin in Ruhe gelassen würden, wenn sie brav ihre Stimme alle vier Jahre abgeben. Sie seien ja zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Übergangsphase „überfordert worden„. Dutschke verneint, er sagt, man könne ja durchaus analysieren und klar erklären, wie zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg die Parteien scheiterten und die NSDAP übernehmen konnte. Interessant hier: „und Keimformen des anti-kapitalistischen Bewusstseins im Faschismus in die höchste Perversion des Antisemitismus zu führen„. Der Aspekt der Kapitalismuskritik der frühen NSDAP ist heute nicht mehr vielen Leuten präsent. Hitler war Sozialist, National-Sozialist, und damit eigentlich ein „Linker“. Darum versucht Gaus Dutschke hier, Dutschke in die Nähe der Hitler-Bewegung zu rücken, was Dutschke heftig abwehrt, indem er nochmals die Grundpfeiler seiner Bewegung verdeutlicht: Selbsttätigkeit, Selbstorganisation, Entfaltung der Initiativen und Bewusstsein der Menschen und kein Führerprinzip. Dies seien allesamt distinguierende Merkmale zwischen seiner Bewegung und der der Nazis.

33:40 – Bis Ende: Dutschkes Gruppierung

Der letzte Abschnitt des Interviews ist für mich aus heutiger Sicht nur auszugsweise interessant. Es geht hier um die Größe der Bewegung, wie viele Leute mitwirken und wie sich dieses Mitwirken von dem Handeln eines Berufspolitikers unterscheide. Viele Berufspolitiker seien finanziell nicht unbedingt auf ihre Tätigkeit als solche angewiesen, also privilegiert, oder aber würden zwar politisch handeln, aber sie würden sich in der Regel doch einreihen in das große Spiel der Parteien, das oben beschrieben wurde, auch wenn sie dies selbst vielleicht nicht so sehen.

Natürlich stellt Gaus auch noch die Frage nach etwaigen anrüchigen Geldquellen. Dutschke spricht hier sehr frei und sagt, dass sie durchaus Sympathisanten im Apparat hätten, die spenden würden. Ansonsten Kleinspenden und Augstein – vermutlich Rolf Augstein, Gründer des Spiegels – habe auch schon gespendet.

Gegen Ende kommt Gaus auf die Bundestagswahl ’69 zu sprechen und fragt Dutschke, wie Dutschke und seine Leute, wenn sie schon keine Partei gründen wollten, dieses Ereignis für sich nutzbar machen würden. Dutschke möchte verdeutlichen, dass Wahlen nichts ändern. Und wenn dies erneut ein paar mehr Leuten klar würde, so sollten diese Leute dann nicht wieder in den Parteiapparat zurückgeführt werden, sondern in die außerparlamentarischen Institutionen, die Dutschke und seine Anhänger gründen wollen, insofern sie es noch dürfen – wie beispielsweise politische Klubs, Kinos, Veranstaltungsräume, Diskussionsrunden und so weiter.

Dutschke schließt mit den provokanten Worten, niemand seiner Leute hätte Angst vor einer Gefängnisstrafe. Er selbst sei bereits im Gefängnis gewesen, es mache ihm nichts aus, wenn es wieder passieren würde. Alle seine Leute seien bereit, jede Konsequenz zu tragen.

Resümee

Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, würde ich den weiteren historischen Verlauf der 68er-Revolution in Deutschland nachzeichnen. Darum möchte ich mich auf die synchrone Betrachtung der Aussagen Dutschkes in diesem Gespräch beschränken und gleichzeitig seine Aussagen auf meine Perspektive der heutigen Zeit übertragen. Der für mich zentrale Begriff in diesem Interview ist definitiv der Begriff „Bewusstsein“. Dutschke spricht vor allem im ersten Abschnitt „Gesprächseröffnung“ wiederholt vom „Bewusstsein“, das „gehoben“ werden soll. Er spricht von unterdrückten Fähigkeiten im Menschen, die befreit werden sollen.

Dieser Punkt ist meines Erachtens das große Missverständnis der politischen Gegner seiner Zeit und auch für mich in der heutigen, ach so modernen Zeit, ist das Bewusstsein und die verschütt gegangenen Fähigkeiten des Menschen nach wie vor das zentrale Problem. Nicht umsonst befassten sich die ältesten bekannten Schriftstücke der Menschheit, die Veden, bereits mit genau diesem Thema. Wie oben bereits erwähnt klingt Dutschke in gewissem Sinne wie ein spiritueller Lehrmeister, der sich in das Kleid eines realpolitischen Kämpfers geworfen hat. Ich bin mir sicher, dass er, wie andere große Geister der Geschichte, ein tiefes Wissen über Spiritualität und Philosophie aller Weltreligion hatte. Sonst würde er nicht das „Bewusstsein“ ins Zentrum seines Wirkens stellen.

Mit der Ausbreitung der Telekommunikation und den Möglichkeiten, Nachrichten aus der ganzen Welt zu erhalten – was für uns heute so belanglos normal erscheint – muss für so bewegte und geistig übergroße Menschen wie Dutschke etwas Tiefgreifendes ausgelöst haben. Es muss bei Dutschke so tiefgreifend gewesen sein, dass er sogar von einer Welt „ohne Krieg und ohne Hunger“ spricht, die erst zu seiner Zeit zur „geschichtlichen Möglichkeit“ geworden sei. Und was ist heute? Heute kann schon ein Kleinkind, gerade noch an der mütterlichen Brust saugend, mit Benutzeroberflächen spielen, die direkt mit dem „World-Wide-Web“ verbunden sind. Dennoch herrscht Krieg und Hunger auf dieser Welt.

Für Dutschke ist der maßgebliche Grund dafür aus seiner linken, marxistisch geprägten Sicht heraus in erster Linie die Lohnarbeit des modernen Kapitalismus. Exakter ausgedrückt, ist sie sogar nur das Mittel „der Eliten“, um die “ bestehende Herrschaftsordnung“ aufrechtzuerhalten. Bis heute gilt der 8-9 Stunden-Arbeitstag als 100%, also als „normal“, obwohl wir bereits die sogenannte „4. industrielle Revolution“ im Gange ist und der Kapitalismus vom „Neoliberalismus“ längst abgelöst wurde. Warum? Dutschke wusste es schon vor 60 Jahren besser.

Ein anderer für mich zentraler Aspekt ist die Medien- und Demokratie-Kritik, die Dutschke hier drastisch äußert. Er spricht auch von Repräsentanten, die gewählt würden und ist klar gegen Machtkonzentration, also kann man ihm eigentlich keine Demokratie-Feindlichkeit unterstellen. Aber er sieht Parteien als Institution sehr kritisch, da – und das beweisen die aktuellen Geschehnisse in Deutschland rund um die neue Rekordverschuldung erneut überdeutlich – die Parteien aus Machtkalkül und stets im Sinne eines „Apparates“ handeln würden, der eindeutig nicht Ausdruck des Wählerwillens sind.

Nun wäre es Aufgabe der Medien, diesen Widerspruch zu kommentieren und zu kritisieren. Heute geschieht das noch weitaus weniger als noch zu Dutschkes Zeit und sogar zu seiner Zeit beschreibt er die Medienlandschaft dahingehend, dass sie systematisch lückenhaft sei und die kommunizierten Inhalte nur fragmentarisch und ohne Zusammenhang liefern würden. Heute sind diese Aspekte in ihrer Tragweite aus meiner Sicht noch um ein Vielfaches gesteigert.

Was kann man also tun? Dutschke nimmt den Demokraten, also alle, die in einer Demokratie leben, in die Verantwortung, selbsttätig zu werden und ihre Vernunft zu gebrauchen. Ganz im historisch-aufklärerischen Sinne „Lerne, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (-> Beitrag: „Das Erbe der Aufklärung“). Der gesellschaftliche Rahmen sollte durch die Arbeit Dutschkes hergestellt werden, indem Räume gestaltet werden sollten, in denen Austausch, Meinungskampf und Aufklärung geschehen kann. Anstelle dieser Örtlichkeiten sind heutzutage die Kommentarspalten in kleinen Filterblasen getreten, in denen oft auf sehr niedrigem Niveau aggressive, anonyme Diskussionen geführt werden, die kaum Mehrwert haben. Die Menschen sprechen heute immer weniger miteinander, weil alle ihre eigene kleine Welt in ihrer Hand halten und viele Stunden mit dieser ihrer kleinen Welt verbringen ( -> Beitrag: „Gedanken zu: Die D-Generation“). Lieber Rudi, du bist zu früh gegangen, aber dafür ist dir dieser Anblick erspart geblieben!

Seine Gedanken zum Thema „Geopolitik“, die in diesem Gespräch nur anklingen, sind auch höchst interessant. Auch hier hat mit weiser Voraussicht geahnt, welche verheerende Konflikte den Menschen der 70er nach Vietnam noch bevorstehen würden. Für uns sind die Worte „Kosovo“, „Afghanistan“, „Irak“, „Libyen“, „Syrien“ oder „Mali“ nicht mehr wirklich relevant, weil vermeintlich Schnee von gestern, aber für Dutschke und seine Zeitgenossen waren diese Kriege noch ferne Zukunftsmusik.

Um hier einen Schlusspunkt zu finden: Dutschke war für mich ein brillanter Geist, dessen Gedankentiefe in diesem hier analysierten Gespräch nur oberflächlich betrachtet werden konnte. Obwohl schon fast 60 Jahre alt ist dieses Gespräch für mich (leider) immer noch absolut relevant, weil sich meiner Ansicht nach die gesellschaftliche Entwicklung, die Dutschke hier trefflich beschreibt, noch verschlimmert haben. Zwar scheint die historische Möglichkeit noch greifbarer, dass so etwas wie eine Revolution des „Bewusstseins“ Realität werden könne. Aber die Konterrevolution, also die polit-medial-industrielle Konterrevolution, ist ebenfalls stärker als je zuvor. Der Kampf um das Bewusstsein der Menschen wird heute so brutal gefochten, wie noch nie zuvor. Es geht nur noch um „gefühlte Wahrheiten“, um „Manipulation“ und „Ablenkung“, um „Behauptungen“ und „Emotionalisierung“.

Willkommen im post-faktischen Zeitalter!

von Marco Lo Voi

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