
Auf der Suche nach der Ruhe
Die Hektik, der Stress und das schier grenzenlos scheinende Tempo des modernen Lebens hat uns nach der durch die Corona-Maßnahmen erzwungene Atempause im Außen wieder vollständig eingenommen. Lockdowns, Arbeitsverbote und soziale Distanzierung haben die dingliche Außenwelt entschleunigt, unser Innenleben zugleich aber mit einem enormen Wirbelsturm überzogen. Dieser Wirbelsturm hat viel Altes weggefegt, wovon einiges lieb und teuer, manches aber vielleicht auch lästig war. Veränderung hat schließlich immer zwei Seiten.
Auch schon bevor ein unsichtbares Virus weite Teile der Bevölkerung beschäftigte, waren die Themen „Leben im Jetzt“, „der gegenwärtige Moment“ und „die Entschleunigung des Lebens“ bereits immer populärer geworden. Ob nun jede Zweite schon Mal Yoga ausprobiert hat, manche ihre „persönliche Meditation“ im Rasenmähen, Häkeln oder Joggen fanden, Buddha-Statuen vielerorts die Zwerge aus den Vorgärten verdrängten, einige sich tatsächlich mit östlichen Traditionen verstärkt auseinandersetzten oder à la Eckhart Tolle schlicht dem Alltagsstress durch Besinnung auf das Jetzt zeitweise entfliehen möchten: viele sind auf der Suche nach Auswegen aus dem Alltagsstress. Sie sehnen sich nach einer Oase der Ruhe. Dieser Trend scheint sich meiner Wahrnehmung nach mit dem Ende der Maßnahmen nun sogar noch verstärkt zu haben.
Auf dieser Suche nach der Ruhe gehen manche Menschen sehr weite Wege. Sie reisen teilweise bis ans andere Ende der Erdkugel, um ihrer kleinen Welt für einen Moment zu entfliehen. Was sie dabei allerdings oft vergessen, ist: Egal wohin sie gehen und was sie zurücklassen, sich selbst nehmen sie dabei immer mit.

Das Bewusstsein
Im letzten Beitrag habe ich die Arbeit von Dr. Joe Dispenza vorgestellt. Seit dem dieser Beitrag veröffentlicht wurde, sind einige Tage vergangen. In diesen Tagen habe ich mich weiterhin intensiv mit seinen Ausführungen beschäftigt und sie in meinen Alltag übertragen. Die Folgen davon waren tiefgreifend. Die Arbeit nach seinen Methoden hat in mir und um mich herum viele Dinge bereits in eine völlig neue Richtung verschoben – meines Erachtens überwiegend im positiven Sinne. Weil dies so ist, möchte ich einen einige meiner Erfahrungen in diesem Beitrag verarbeiten. Dabei möchte ich mich zunächst mit dem grundlegenden Konzept der Arbeit von Dispenza beschäftigen und schließlich die sich für mich daraus ergebenden Veränderungen berichten.
Da Dispenza mit der Technik der Meditation arbeitet, geht es bei seiner Arbeit – so wie bei jeder anderen Meditationstechnik auch – vorrangig darum, im „Jetzt“ anzukommen. Im „Jetzt“ sind wir in der Ruhe, wir sind in „unserer Mitte“, die Gedankenwelt hat kurz Pause. Wir atmen durch. Dabei erweitert er das inzwischen sehr gebräuchliche Konzept des „gegenwärtigen Moments“ um einen entscheidenden Aspekt. Um diesen Aspekt aber verständlich zu machen, sind ein paar Erläuterungen notwendig.
Zunächst unterscheidet sich Dispenzas Auffassung von „Bewusstsein“ und „Unterbewusstsein“ von der Freud’schen Psychologie, die vielen von uns zumindest in Ansätzen bekannt ist. Dr. Joes Ausführungen zufolge nehmen wir lediglich 5% unserer Denkvorgänge bewusst wahr. Diese 5% nennt er das „Bewusstsein“. Dieses Bewusstsein spielt sich in den äußeren Hirnarealen (Neocortex) ab und man könnte es als das herkömmliche „(Nach-)Denken“ bezeichnen. Die restlichen 95% unserer Hirnaktivität läuft im Hintergrund ab, dem „Unterbewusstsein“ (Limbisches System). Dazwischen definiert Dispenza eine Trennlinie, die er den „analytische Geist“ nennt. Alle Gedanken, die wir reflektieren, bewerten und kategorisieren, spielen sich im Bewusstsein ab und werden von unserem analytischen Geist „begutachtet“ – und das sind nur 5% von dem, was tatsächlich unsere Hirnaktivität ausmacht.
Der große Rest (95%) besteht aus automatisierten „Programmen“, die zum einen alle lebenswichtigen Körperprozesse wie Herzschlag, Atmung, Verdauung, etc. umfassen, zum anderen aber auch alle „antrainierten“ Bewegungs- und Denkvorgänge, die durch Wiederholung so verinnerlicht wurden, dass wir keinerlei „Gedanken“ daran verschwenden müssen, wie und warum wir diese ausführen. Sie sind „automatisiert“. Dazu gehören Dinge wie Laufen, Springen, Zähne putzen, Auto fahren und Treppen steigen. All diese Dinge sind teilweise hochkomplexe Bewegungsvorgänge, die wir mit spielerischer Leichtigkeit ausführen, während wir im Gedanken, mit unserem Bewusstsein, in völlig anderen Sphären schweben können.

Unser Körper – eine Geschichte
Neben Bewegungsabläufen gehören auch emotionale Reaktionen zu Prozessen des Unterbewusstseins. Hier wird es etwas komplex. Während unserer pränatalen Phase im Mutterleib und auch im Säuglingsstadium ist unser Hirn mehrheitlich eine Einbahnstraße, das nur aufnimmt und sich dadurch strukturiert. Je entwickelter das Gehirn wird, desto mehr und mehr übernimmt es steuernde Funktionen und reguliert verschiedene Stoffe unseres Körpers. Diese körpereigenen Stoffe werden von unserem Körper produziert, wenn unser Hirn entsprechende Impulse liefert. Das geschieht folgendermaßen:
Am Anfang steht ein Reiz über die Sinneswahrnehmungen oder – je weiter unsere Gedankenwelt entwickelt ist – ein Gedanke. Sowohl der Sinnesreiz als auch der Gedanke entsprechen in unserem Hirn einer elektrischen Ladung. Diese elektrische Ladung unseres Hirns erzeugt unterschiedliche Reaktionen des Körpers, die man als Emotionen bezeichnen könnte.
Dispenza definiert Emotionen folglich als „biochemische Reaktion auf Reize der Innen- oder Außenwelt“. Diese biochemischen Reaktionen durchströmen unseren Körper und formen ihn mit der Zeit, wenn bestimmte Hormone und Botenstoffe immer wieder oder auch für längere Zeit in unserem Körper zirkulieren. Wie Wasser einen Felsen mit der Zeit formt, formen die emotionalen Ströme unsere Körperregionen und schreiben damit eine Geschichte in unsere Persönlichkeit und unsere Einstellung, aber auch in unsere Nervenbahnen, Knochen, Muskeln und Eingeweide. So wird aus Energie (elektrische Ladung unseres Hirns) Materie (biochemische Stoffe des Körpers und schließlich Körperstrukturen).
Ähnlich wie bei Suchterkrankungen kann unser Körper auch nach Emotionen süchtig werden, wenn wir den Körper über eine längere Zeit oder wiederholt bestimmten Emotionen aussetzen. Egal, ob diese Emotionen für uns als schmerzlich, schrecklich und grauenvoll oder als schön, ekstatisch und wunderbar empfunden werden: unser Körper kann davon abhängig werden. Dies ist der Grund, weshalb manche Menschen ihr Leben nicht ändern können, auch wenn sie selbst erkennen, dass ihr Verhalten sie immer weiter weg von einem heilvollen Lebenswandel leitet. Wir tragen unsere Vergangenheit also nicht nur in Form von Erinnerungen in unserem Kopf oder in Gestalt von Narben auf unserem Körper, sondern auch als strukturelle Veränderung IN unserem Körper mit uns herum.

Der gegenwärtige Moment
Jeder kennt sie: diese Menschen, die scheinbar unermüdlich in ihrem Job, in der Familie und gleichzeitig im Sport aktiv sind, früh aufstehen, den ganzen Tag produktiv sind und stets voller Lebensfreude stecken. Sie scheinen auf wundersame Weise mehr Kraft für das zu haben, was man den Alltag nennen könnte. Gleichzeitig kennt jeder auch Menschen, die sich, auch wenn sie körperlich noch kräftig und jung sind, mehr durch das Leben schleppen als wirklich aufrecht gehen. Sie gehen gebeugt und langsam, haben ihren Blick gesenkt und sie umgibt eine undefinierbare Traurigkeit, die man irgendwie spüren kann. Was unterscheidet diese beiden Extreme voneinander?
Es ist das Energielevel, das bei den einen offensichtlich sehr hoch, bei den anderen sehr niedrig zu sein scheint. Ich weiß, das Wörtchen „Energie“ erzeugt in vielen schnell eine Assoziation mit „Esoterik“ und „verrückter Spiritualität“. Darum habe ich in der Vergangenheit immer das Wort „Kraft“ gewählt, um dieser Assoziation vorzubeugen. Aber was ist denn so schlimm am Begriff „Energie“? Schließlich spricht doch die ganze Welt von „erneuerbaren Energien“, der „Energie-Wende“ und so weiter. Nicht nur die Sonne, das Wasser oder die Erde sind voller Energie: dieselbe Energie strömt auch durch unsere Körper.
Jede und jeder ist an diese Energie angebunden, die das ganze Universum durchströmt. Folglich haben alle potenziell unendlich viel Energie. Die Kunst des Lebens besteht jedoch darin, in welche Richtung wir diese Energie lenken. Mit „Richtung“ meine ich tatsächlich das, was man gemeinhin als „Zeit“ bezeichnet. Und hier schließt sich der Kreis mit dem „gegenwärtigen Moment“. Ich habe weiter oben beschrieben, wie unser Körper zum Träger unserer Vergangenheit wird. Wir kennen den Ausdruck „man hängt an der Vergangenheit“. Ich drehe es um und sage: „die Vergangenheit hängt an uns„. Je schwerer sie wiegt, desto schleppender bewegen wir uns durch unser Leben, desto träger wird unser Geist und desto geringer fällt die Energie aus, die unser zur Verfügung steht. Wie passiert das?
Wie bereits erwähnt: 95% unserer Gedankenbewegungen sind unterbewusst. Teil dieser unterbewussten Gedankenbewegungen sind auch emotionale Reaktionen auf bekannte Situationen oder auf Situationen, die bekannten Situationen in irgendeiner Weise ähneln. Hierzu ein Beispiel: In vielen Beziehungen zwischen zwei Personen kommen Dynamiken auf, deren Ursprünge in der Erziehung der jeweiligen Person liegen. Lässt beispielsweise Lisa ihre stinkenden Klamotten in der gemeinsamen Wohnung herumliegen und Lara beschwert sich darüber, kann dies in Lisa alte Prägungen durch die vielleicht übertrieben ordnungsliebende Mutter wecken, woraufhin Lisa dann vielleicht nicht verständnisvoll auf die Kritik von Lara sondern eher schnippisch oder eingeschnappt reagiert. Im Kopf steht Lisa dann nicht vor Lara sondern (unbewusst) vor der eigenen Mutter, die sie, das Kind, schon wieder wegen herumliegender Dinge anmeckert.
Hat Lisa also eine nachhaltige Kindheitsprägung durch die eigene Erziehung noch nicht aufgelöst, definiert diese Prägung der Vergangenheit den gegenwärtigen Moment, in welchem Lara sich kritisch zu den herumliegenden Klamotten äußert. Die Emotionen, die durch die Kritik von Lara in Lisa unterbewusst ausgelöst werden (Vergangenheit), können bewusste Gedanken erzeugen (Gegenwart), die dann zu Reaktionen führen (Zukunft). Diese Reaktionen können böse Worte oder Taten sein, die dann einen Streit auslösen, dessen Ursprung eigentlich in der Vergangenheit von Lisa liegt. Lisa ist offensichtlich nicht im gegenwärtigen Moment präsent, da ihre Gedanken und Folgehandlungen sich aus Dingen der Vergangenheit speisen. Während sie also in der Reaktion ist, durchlebt sie erneut die eigene Vergangenheit und reist damit gedanklich in der Zeit zurück.

Die Oase der Ruhe
Jeder und Jede von uns hat Routinen, diese unterbewussten Programme, die bestimmte Handlungen unseres Alltags bestimmen. Die Art, wie wir unseren Kaffee am liebsten zubereiten, den Spazierweg, den wir am liebsten gehen, oder den Radiosender, dem wir während der Arbeit lauschen. Außerdem hat vermutlich jede und jeder Traumata, Ängste oder sonstige Prägungen, wie Höhenangst, Schwindel, Migräne, Angst vor Hunden oder anderen Dingen. Ich beispielsweise habe ein Ekelthema mit Spinnen. Es reichte allein der Gedanke daran, wie eine Spinne über meine Hand oder gar meinen Kopf krabbelt und mich schüttelte es förmlich. Mein Körper zeigte eine Reaktion, noch bevor überhaupt eine Spinne in Sicht ist. Dies Prägung ist so alt, dass ich deren Ursprung nicht mehr ausmachen kann. Mit den Techniken von Dispenza ist es mir jedoch gelungen, erste Besserungsschritte zu erzielen. Natürlich bin ich noch davon entfernt, mir eine dicke Spinne über die Hand laufen zu lassen. Aber die Gedanken an Spinnen haben keine solch starke Macht mehr über mich, wie noch vor ein paar Monaten.
Dies habe ich geschafft, indem ich intensive und klare Absichten definiert und diese mit stark positiven Emotionen verknüpft habe, die nun einen Teil meiner Meditationspraxis ausmachen. Ich setze mich an meinen Meditationsort und komm zur Ruhe, indem ich mich auf meinen Körper konzentriere. Fühle ich die Verbundenheit zum Raum, manifestiere ich meine Absichten und Wünsche und „lade“ diese dann mit stark positiven Emotionen „auf“. Wie oben beschrieben reagiert der Körper mit biochemischen Prozessen (Emotionen) auf Gedanken. Dabei kann der Körper nicht unterscheiden, ob wir uns Dinge nur sehr, sehr stark vorstellen (Gedanken) oder tatsächliche Sinnesreize im Außen wahrnehmen. Wir konditionieren unseren Körper – und damit unsere Vergangenheit – also um, indem wir Gedankeninhalte neu bewerten und mit neuen Emotionen verknüpfen. Damit schaffen wir neue neuronale Netzwerke in unserem Hirn und „bahnen“ neue Pfade in unserem Körper.
Wir schaffen somit unsere eigene Oase der Ruhe, indem wir die Ruhe in uns selbst fördern. Wir fliehen nicht vor den Dingen im Außen, die uns Angst machen, sondern definieren diese Dinge für uns neu, sodass sich der Grund für die vormalige Flucht von selbst erübrigt. Die von uns so ersehnte Oase der Ruhe ist nirgends auf der Welt zu finden. Sie ist im „wahren“ gegenwärtigen Moment zu finden. Der wahre gegenwärtige Moment ist der Ort, an welchem jede Prägung, jedes Wissen, jede Vorerfahrung, jedes Urteil und jegliche Bewertung ihre Bedeutung verliert, weil wir uns nicht mehr durch unsere Vergangenheit definieren, sondern im gegenwärtigen Moment völlig frei entscheiden, wohin wir die uns so grenzenlos zur Verfügung stehende Energie hinlenken möchten.

Mit frischer Energie in eine neue Zukunft
Die Ziele, die hinter den Techniken von Joe Dispenza stecken, sind vielfältig. Zum einen geht es um neu gewonnene Ruhe und Stärke, die wir mit jeder anderen herkömmlichen Meditationstechnik ebenfalls erreichen können. Es geht aber noch um vieles mehr. Wenn wir, wie oben beschrieben, alte Gedankenstrukturen, deren Ursprünge in der Vergangenheit liegen, durch wiederholte bewusste Neubewertung auflösen, werden automatisch Energiepotentiale frei, die von diesen alten Gedankenstrukturen besetzt wurden. Vor allem Gedanken wie die Folgenden binden ein enormes Maß an Energie: „Ich bin ein schlechter Vater“, „Ich bin wertlos“, „Ich werde niemals zufrieden sein“, „Wer würde mich lieben?“, „Mein Schmerz wird niemals enden“, etc.
Wenn wir diese Gedanken, die eng mit negativen Emotionen verknüpft sind, loslassen und umprogrammieren, gewinnen wir all die Energie zurück, die in diesen Gedankenmustern versiegelt sind. Dazu muss man bedenken: diese Gedankenmuster bestimmen nicht nur den gegenwärtigen Moment, sondern auch das gesamte zukünftige Leben, da diese Gedankenmuster auch alle Entscheidungen der Zukunft beeinflussen und damit vorhersehbar machen. Lösen wir uns von dem Altbekannten, öffnet sich uns die Tür zu einer neu gestaltbaren Zukunft, die wir durch neue Emotionen und neue Absichten aus dem wahren gegenwärtigen Moment heraus in das Neue und Unbekannte hinaus entwerfen können!
Wie dies genau vonstatten geht, möchte ich in folgenden Beiträgen behandeln. Dort werde ich zunächst über das Konzept „Raum“ sprechen und schließlich darüber, wie wir mit der Meditation mit dem „Raum“ in Verbindung treten können.
von Marco Lo Voi
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