Zwei Perspektiven auf dieselben Zahlen
In diesem Beitrag sollen zwei Artikel, die sich jeweils zu einem der neuen gesellschaftlichen Lager „Covidioten“ oder „Corona-Gläubige“ zuordnen, untersucht und verglichen werden. Die Lager-Benennungen sind natürliche keine Selbstbezeichnungen, sondern wurden von der jeweiligen Gegenseite geprägt. Freundlicher formuliert würde man sagen: Ich möchte hier einen Artikel der „Qualitätsmedien“ mit einem Artikel der „Freien Medien“ vergleichen.
Das behandelte Thema, ja sogar der Inhalt ist exakt derselbe; es geht um die sogenannte „zweite Welle“ der „Corona-Pandemie“. Beide Artikel nennen dazu fast dieselben Zahlen, um ihre Perspektive auf die „zweite Welle“ auszudrücken. Interessanterweise werden wir eine erhebliche Diskrepanz im Tonfall der beiden Artikel erleben, obwohl dieselben Sachverhalte geschildert werden. Beginnen möchte ich mit einem Artikel des „Spiegel“ vom 6.09.2020.
Die Sichtweise der „Qualitätsmedien“
Hier geht es zum behandelten Artikel. Der Artikel erschien unter dem Schlagwort „Pandemie“ und trägt den Titel: „In Frankreich schnellen Corona-Zahlen in die Höhe“. Der Autor oder die Autorin ist nicht feststellbar, weil der Artikel einfach von „Reuters“ übernommen wurde. Im Prinzip ist mit dem Titel schon alles gesagt: in Frankreich ist die Aussicht düster. Der Leser und die Leserin werden schon auf unbequeme Neuigkeiten eingeschworen und die Schlagzeilenüberflieger haben wieder beunruhigende Corona-News, die sie mit ihren Arbeitskollegen am Mittagstisch austauschen können.
In der Zusammenfassung heißt es: „In Frankreich rollt mit 8550 Neuinfektionen an einem Tag die zweite Welle an. Brasilien meldet mehr als 30.000 Neuinfektionen. In Deutschland scheint die Lage dagegen weitgehend stabil.“ Endlich: die lang beschworene zweite Welle „rollt“ an. Damit wird angedeutet, dass der Trend, der sich nun beobachten lässt, nur der Beginn weiterer Entwicklungen sein wird. Es werden hier also Aussagen über eine hypothetische Zukunft angedeutet.
Außerdem – und das gilt für fast alle „Qualitätsmedien“ mit all ihren Corona-News“ – werden positive Testungen immer mit einer „Infektion“ gleichgesetzt. Jeder weitere positive Test ist also eine „infizierte Person“, selbst wenn diese keinerlei Symptome aufweist.
„In Deutschland scheint die Lage dagegen weitgehend stabil.“ Diese Aussage kann als Mahnung verstanden werden, dass die aktuelle Situation keine dauerhafte sein muss, denn die Lage „scheint“ nur stabil – aber ist sie es wirklich? Und obwohl der Artikel mit Frankreich titelt, wird hier als beliebtes Extrembeispiel Brasilien mit aufgeführt. Dies geschieht vermutlich, weil die Zahl „30.000“ sehr hoch erscheint.
Die Wenigsten wissen jedoch, dass Brasilien fast 212 Millionen Einwohner hat und 30.000 einem Bevölkerungsanteil von 0,014% entspricht. Frankreich hat eine Bevölkerungszahl von fast 67 Millionen, von denen 0,012% positiv auf die Corona-Virus-RNA-Schlüsselsequenz getestet wurden (8550). Prozentual gesehen erscheint das Infektionsgeschehen in Brasilien plötzlich nicht mehr sehr viel erschreckender als in Frankreich.
„In Frankreich breitet sich das neuartige Coronavirus weiterhin schnell aus.“ Lautet der erste Satz des Artikeltextes. Dies ist eine Aussage, die durchaus diskussionswürdig ist. Im Prinzip ist das Wort „schnell“ stark subjektiv und immer relativ zu sehen. Das Adverb „Weiterhin“ soll hier zudem das Gefühl vermitteln, die berichtete Entwicklung ginge schon seit längerer Zeit so vor sich.
Doch was ist der Anlass für den Alarm? „4,7%“ aller getesteten Menschen weisen gemäß des Tests die RNA-Sequenz des Corona-Virus auf. Wenn mich meine Rechenkünste nicht täuschen, dann wurden also innerhalb von 24 Stunden über 180.000 Menschen getestet. Von 180.000 Menschen weisen also ca. 8.500 Menschen die Corona-Sequenz auf. Hält man die absolute Zahl von 180.000 neben die Zahl 8.500 dann wirkt dieses Ergebnis auf mich persönlich weit weniger erschreckend als „4,7%“, weil wir ja darauf eingeschworen wurden, die magische Marke von „1%“ nicht überschreiten zu dürfen (Stichwort „R-Faktor“).
Im nächsten Abschnitt fällt dann auch schon das nächste Schlagwort: „Auf dem französischen Festland breite sich das Virus weiter exponentiell aus […]“. „Exponentiell“ – ein weiteres Wort, bei dem sich die meisten Leser nur eine steile Kurve vorstellen, aber im Grunde keinen wirklichen Bezug zu einer e-Funktion herstellen können. Wir werden später an einigen Graphen prüfen, ob eine exponentielle Steigerung zu sehen ist.
Des weiteren wird nun überall das Gegenargument, das die „Covidioten“ stets bemühen, einfach unbewiesen widerlegt: „Die Zunahme der positiven Tests könne nicht allein mit der Ausweitung der Tests erklärt werden.“ Es wird an dieser Stelle nicht argumentiert, sondern das Argument wird einfach unbewiesen abgeschmettert.
Gleich im nächsten Satz werden die Begrifflichkeiten stark durcheinander gewürfelt: „Seit Anfang Juli habe sich die Zahl der registrierten Corona-Patienten mehr als verdoppelt, die Zahl der Neuansteckungen liege sogar zwölfmal so hoch wie vor zwei Monaten.“ Oben sind es noch „Infizierte“, hier haben wir es schon mit „Corona-Patienten“ zu tun und dann sind es wieder „Neuansteckungen“.
Sind „Corona-Patienten“ das gleiche wie „Infizierte“ bzw. „Neuangesteckte“? Oder haben wir es hier tatsächlich mit Krankenhausfällen zu tun? Diese Frage wird nicht beantwortet. Damit werden hier die positiv Getesteten gedanklich schon als „Patienten“ und damit schon als potentielle Corona-Tote gezählt, denn „[m]it fast 30.700 Todesopfern ist Frankreich eines der am schwersten von der Pandemie betroffenen Länder Europas.“
Zunächst wird hier also ein Zeitraum, der sich durch eine äußerst geringe „Ansteckungsrate“ ausgezeichnet hat, mit den aktuellen Geschehnisse verglichen, wobei man dabei den Ausdruck „zwölfmal so hoch“ wählt. Dies würde bedeuten, dass im Juli also maximal 708 positive Tests pro Tag gezählt wurden, wenn man die Zahl 8.500 geteilt durch 12 nimmt, da diese Zahl ja zwölfmal so hoch sein soll. Dabei wird aber nicht erwähnt, wie viele Tests im Juli im Vergleich zu jetzt gemacht wurden. Wenn zwölfmal so viele Test gemacht wurden – was ich nicht glaube – dann hätten wir es faktisch mit einem gleichbleibenden Infektionsgeschehen zu tun: eine weitere Lücke.
Im nächsten Satz zu den Todesopfern wird dann aber schon wieder vom gesamten Zeitraum der Pandemie gesprochen; man bezieht sich also auf den Zeitraum von März bis September. Im gesamten Zeitraum entspricht dies im Schnitt 166 mit Corona Verstorbene pro Tag. Zum Vergleich: Im Jahre 2019 sind in Frankreich jeden Tag insgesamt 1.700 Menschen gestorben.
Da die Zahlen für Deutschland relativ unspektakulär sind, wählte man für die nächste Abschnittsüberschrift die größte Zahl, die Deutschland zu bieten hat: Die Gesamtzahl aller jemals positiv auf das Corona-Virus-Gesteste: Eine Viertelmillionen. Dies bedeutet, dass 0,3% der Gesamtbevölkerung Deutschlands (83 Mio.) seit März positiv getestet wurden. 0,3% ist nun leider keiner Zahl für eine starke Überschrift, weshalb man hierfür lieber die absolute Zahl wählt.
Insgesamt sind gemäß des RKI 0,01% der deutschen Bevölkerung „im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion“ gestorben. Hier entlarvt sich eine wichtige Sache: In die Todesstatistik der Coronapandemie gehen nämlich alle Verstorbenen ein, die positiv getestet wurden, auch wenn sie nicht ursächlich an „Sars-CoV-2“ gestorben sind.
Im weiteren Verlauf des Artikels werden die Länder Brasilien, Südkorea und Indien thematisiert, wobei stets mit kontextlosen absoluten Zahlen hantiert wird. Aus dem Artikel geht im Einzelnen nicht deutlich hervor, welche Zeiträume gemeint sind. Allerdings schätze ich, dass mit „insgesamt“ stets der Gesamtverlauf der Pandemie und damit alle Fälle in diesem Zeitraum addiert ohne Abzug der bereits Genesenen gemeint ist. Hier die präsentierten Zahlen in ihren Relationen:
- Brasilien:
„Insgesamt zählt Brasilien 4,1 Millionen Infizierte und 126.203 Todesfälle.“ Seit April waren also insgesamt 1,9% der Gesamtbevölkerung infiziert und 0,06% der Gesamtbevölkerung ist mit Corona verstorben. Wenn meine Berechnungen stimmen, dann sind gemäß dieser Statistik im gesamten Jahr 2015 insgesamt ca. 1,28 Millionen Menschen (ca. 0,61% der Gesamtbevölkerung) in Brasilien gestorben. Im Vergleich dazu erscheinen die Todeszahlen der mit Corona-Verstorbenen plötzlich nicht mehr ganz so angsteinflößend.
- Südkorea:
Südkorea wird uns hier als Positivbeispiel präsentiert, weil dort extreme Corona-Maßnahmen und ein „aggressives Aufspüren von möglichen Infizierten mit Hilfe technischer Überwachung“ stattfindet. Die Nennung dieses Beispiels soll uns zeigen, wie wunderbar man mit dieser Pandemie fertig werden kann, wenn man den Menschen nur als lebendiges Virusmedium betrachtet. In Südkorea sind insgesamt 336 Menschen (0,0006% der Gesamtbevölkerung) mit Corona gestorben. Bisher waren 0,04% der Bevölkerung infiziert. Diese Zahlen, sollten sie so stimmen, sind in der Tat bemerkenswert. Die Frage ist, ob man die persönliche Freiheit und seelische Gesundheit eines ganzen Landes (100%) gegen die Gesundheit von weniger als einem halben Prozent der Bevölkerung eintauschen möchte.
- Indien:
Nun ist Indien der neue weltweite Corona-Hotspot: „Indiens Gesundheitsministerium meldet 90.632 Neuinfektionen binnen 24 Stunden. Noch nie wurden weltweit in einem Land so viele Corona-Ansteckungen innerhalb eines Tages gezählt.“ Indien hat eine Bevölkung von 1,38 Milliarden Menschen. Demnach waren in Indien seit April insgesamt 0,29% der Bevölkerung infiziert. Aktuell gelten 0,06% der Bevölkerung als Corona-positiv. Seit Beginn der Pandemie beklagt Indien einen Bevölkerungsverlust von 71.700, die mit Corona gestorben sind, was 0,005% der Gesamtbevölkerung entspricht. Gemäß Wikipedia sind im Zeitraum von 2015 bis 2020 dort jährlich im Schnitt insgesamt 9,73 Millionen Menschen gestorben. Damit sterben in Indien jeden Tag ca. 27.000 Menschen (0,0019% der Gesamtbevölkerung).
Die Sichtweise der „Freien Medien“
Der folgende Artikel erschien als Kommentar auf der Seite www.kenfm.de unter der Überschrift „Die offiziellen Zahlen der WHO und die zweite Welle: Ja, wo rollt sie denn?“ Der Autor ist der investigative Journalist Thomas Röper, der mit seiner Seite „www.anti-spiegel.ru“ kritischen Journalismus als Ein-Mann-Projekt liefert.
Auch diese Überschrift macht deutlich, was im Artikelinhalt zu erwarten ist: „Ja, wo rollt sie denn?“ Diese rhetorische Frage hat definitiv einen ironischen Unterton und enthält deutlich die Meinung des Autors, die im starken Kontrast zum „Spiegel“-Artikel steht.
Thomas Röper eröffnet den Artikel mit einem Verweis auf die offiziellen Statistiken der WHO. Seiner Ansicht nach „zeigen [die Ergebnisse] eine Menge interessanter Details auf, aber keine Hinweise auf eine zweite Welle.“
Zu Beginn des Artikeltexts fordert er den Leser auf, sich selbst die Daten, auf der sich bezieht, anzusehen und erläutert anschließend knapp die Struktur des Artikels: „Ich werde hier nur ein paar ausgewählte Länder, die in den Medien immer wieder genannt werden, und ihre Zahlen zeigen. Hier zeige ich die entsprechenden Screenshots und kommentiere jeden kurz.“
Im Folgenden führt er die Länder Deutschland, Italien, Spanien, Frankreich, die USA, Schweden und Russland an und zeigt jeweils Screenshots von Graphiken, die er der Seite der WHO entnommen hat. Im zweiten Teil des Artikels macht er auf die Seite „ourworldindata.org“ aufmerksam, deren Funktion er kurz erklärt.
Den Anstieg der positiven Tests macht Röper an der gestiegenen Anzahl der Testungen fest. Wie oben erwähnt, ist dies ein beliebtes Argument der Maßnahmen-Kritiker, das neuerdings von den Qualitätsmedien einfach dementiert wird. Da sich das Argument hier ausschließlich auf Deutschland bezieht und oben Frankreich als Beispiel genommen wurde, ist kein direkter Vergleich möglich. Für Deutschland kann dieses Argument jedoch als gültig angesehen werden, weil die Todeszahlen stagnieren, der prozentuale Anteil der Positiv-Tests gleichbleibt, aber die absolute Zahl der Positiv-Tests in dem Maße steigt, wie die Anzahl der durchgeführten Tests.
Für Italien bedient er sich derselben Erklärung wie für Deutschland, weil er den Verlauf der beiden Graphen für vergleichbar erachtet. Tatsächlich scheint Deutschland gemessen an den „Infizierten“ sogar noch „bedrohter“ zu sein.
Hier haben wir auf den ersten Blick einen anderen Verlauf. Röper bleibt dennoch bei seiner Aussage: „Wieder das gleiche Bild, wobei hier etwas besonders deutlich hervorsticht, was wir auch auf allen anderen Grafiken sehen: Es werden zwar mehr Infizierte gemeldet, aber es folgt kein Anstieg der Totenzahlen. Wo aber ist dann die Gefahr, die angeblich von Corona ausgeht?“ Für ihn ist also lediglich die unten stehende Graphik ausschlaggebend, die die Todeszahlen zeigt. Die positiven Tests scheinen für Röper nicht sehr relevant in der Bewertung der Gefährlichkeit des Virus zu sein.
In Frankreich scheint es sich gleich zu verhalten wie in Spanien, so der Autor.
Die Graphik unterscheidet sich erheblich zu den bisher gezeigten Darstellungen. Der Autor schreibt dazu: „Besonders interessant, denn obwohl dort immer mehr getestet wird, geht die absolute Zahl der Infizierten sogar zurück. Wie passt das zu den Katastrophenmeldungen der Medien über die USA?“ Die höheren absoluten Zahlen, die die USA aufweist, führt der Autor auf die höhere Bevölkerungsanzahl der USA zurück, während prozentual gesehen keine erhöhten Sterblichkeit im Vergleich zu den anderen Ländern vorliege. Stimmt das?: USA: 0,056% vs. FRA: 0,045% vs. DE: 0,011% vs. ITA: 0,059. Nur Deutschland ist wesentlich geringer betroffen, während Italien prozentual sogar mehr Tote zu beklagen hat.
Nach Röper habe Schweden „praktisch keine Einschränkungen verhängt.“ Deswegen seien die Infektionszahlen längere Zeit ansteigend gewesen. Dennoch sei in Schweden „von einer zweiten Welle nichts zu sehen“, was im Hinblick auf die Graphik bestätigt werden kann. Er fügt an dieser Stelle sogar noch ein interessantes Detail bei: „Hinzu kommt, dass Schweden seit Juli eine Untersterblichkeit hat, wie diese Grafik der schwedischen Statistikbehörde zeigt“
Problematisch an dieser Graphik ist jedoch, dass hier kein Quellenverweis zu finden ist. Die einzige Graphik, die ich finden konnte, ist folgende:
Sie zeigt grundsätzlich denselben Verlauf wie die von Röper, allerdings werden hier die Zahlen jeweils für die gesamte Woche ausgedrückt. Man muss zugeben, dass Schweden im Zeitraum von KW 12 bis KW 27 ein erhöhte Sterblichkeit aufweist. Es handelt sich dabei um insgesamt 5.800 mit Corona-Verstorbene, was einem Anteil von 0,056% der Gesamtbevölkerung entspricht. Damit ist Schweden prozentual gesehen mit den USA auf Augenhöhe. Während jedoch in den USA der Arbeitsmarkt einbricht, scheinen sich die Auswirkungen in Schweden in Grenzen zu halten.
Röper ist seit mehreren Jahren nach Russland ausgewandert und bekannt für seine russlandfreundliche Berichterstattung. Aus der westlichen Sicht ist er ein „Putinversteher“ der Extraklasse, ein erklärter „Anti-Amerikaner“ und „Kreml-Hofberichterstatter“, weshalb er hier Russland ebenfalls thematisiert. Zu Anfang der Pandemie war er äußerst zurückhaltend in seinen Aussagen bezüglich Corona und den Maßnahmen. Er hat so lange mit seiner kritischen Betrachtung gewartet, bis die ersten Langzeitstatistiken herausgegeben wurden, was ich für vernünftig halte.
Gemäß seinen Aussagen gebe es in Russland „keinerlei Einschränkungen mehr und die bestehende Maskenpflicht in der U-Bahn wird zumindest in St. Petersburg, wo ich lebe, weder kontrolliert, noch eingehalten. Bei jeder U-Bahnfahrt zähle ich aus Langeweile die Masken und die Zahl der Maskenträger schwankt zwischen 20 und 30 Prozent. Eine Handschuhpflicht besteht in der U-Bahn ebenfalls, aber ich habe nur zwei oder drei Leute mit Handschuhen gesehen.“
Dennoch seien die Infektionszahlen rückläufig. Die hohen Todeszahlen (17.299) seien ebenfalls auf die große Bevölkerungzahl (146 Mio) zurückzuführen (0,012% der Bevölkerung sind mit Corona verstorben). Zudem erwähnt er den früh verhängten (bei 500 positiv Getesten) und zeitig wieder abgeschafften (noch über 10.000 positive Tests täglich) Lockdown. Er fügt zudem noch einige Anmerkungen zur Berichterstattung und dem Impfverhalten in Russland an.
In Russland werde weniger Panik geschürt und der Corona-Impfstoff werde kostenlos bei Vorlage des russischen Ausweises ausgegeben. Ich persönlich halte es für widersinnig sich jedes Jahr auf die Grippe zu impfen, aber das hat an dieser Stelle nichts mit der Berichterstattung Röpers zu tun.
Im zweiten Teil seines Artikels macht er auf ein anderes Statistik-Tool aufmerksam, das von „Our World in Data“ zur Verfügung gestellt wird. Insbesondere setzt er zwei Ansichtskarten in Beziehung zueinander:
Karte „Positivrate“:
(Quelle)
Karte „Testanzahl“
Gemäß Röpers Analyse sieht man, „dass die Positivrate in Spanien und der Ukraine am höchsten ist, aber wie oben gesehen, führt das in Spanien laut WHO nicht zu einem Anstieg der Sterblichkeit an Corona.“ Des Weiteren zieht er aus dem Abgleich der beiden Karten folgendes Resümee: „In den roten Ländern ist die Positivrate übrigens deshalb so hoch, weil kaum getestet wird. Wer aber nur Kranke in Krankenhäusern testet, die mit Symptomen kommen, hat zwangsläufig eine höhere Positivrate.“
Wenn man beispielsweise Mexiko und Australien vergleicht, dann sieht man in der Karte „Testanzahl“, dass Australien viel mehr testet (dunkelgrün), aber in der Karte „Positivrate“ im dunkelblauen Bereich ist. In Mexiko verhält es sich genau umgekehrt: Während weniger getestet wird, findet man gleichzeitig mehr positive Ergebnisse.
Schließlich fügt er einen weiteren interessanten Hinweis auf eine Funktion hinzu. Die Seite „Our World in Data“ ermöglicht es unter anderem, von vielen Ländern die Anzahl der durchgeführten Tests in einer vergleichenden Graphik darzustellen. Im Artikel zeigt er das Ergebnis für die oben aufgeführten Länder:
Diese Darstellung lässt er unkommentiert, aber empfiehlt jedem Fan handfester Zahlen die Ansichten dieser Seite (er nennt sie „Spielwiesen“) einmal aufzusuchen. Den Artikel schließt er mit den Worten: „Nur eines findet man auf diesen Spielwiesen nicht: Einen Hinweis auf eine anrollende zweite Welle oder auf eine relevante Sterblichkeit an Corona.“
Fazit
Allgemein lassen sich folgende Punkte festhalten:
- Der „Spiegel“-Artikel ist mit 570 vs. 1100 Wörtern insgesamt kürzer und weniger detailliert.
- Aus dem „KenFM“-Artikel sind bis auf die Statistik der schwedischen Statistikbehörde für alle genannten Zahlen Quellenverweise zu entnehmen, während der „Spiegel“-Artikel keinerlei Quellenverweise liefert.
- Beide Artikel sprechen von „Infizierten“, was aus meiner Sicht nicht ganz exakt ist.
- Der „Spiegel“-Artikel liefert fast ausschließlich absolute Zahlen ohne Kontext, während der „KenFM“-Artikel darauf abzielt, die Zahlen in ihrer demographische Realität darzustellen.
- Der „KenFM“-Artikel arbeitet mit Original-Graphiken der zuständigen Behörden und lässt zunächst den Leser und die Leserinnen selbst einen Blick auf den statistischen Verlauf werfen, während beim Spiegel nur nackte Zahlen präsentiert werden.
- Der Spiegel verpackt diese Zahlen als „Meldung“, wobei festgestellt wurde, dass einzelne Ausdrücke, Überschriften und Zahlenformate so gewählt wurden, dass sie eine gewisse Wirkung erzielen. Der „KenFM“-Artikel ist ein „Standpunkt“/“Kommentar“, der durchaus mit Ironie arbeitet und deutlich eine Meinung demonstriert, was allerdings im Rahmen eines Kommentars legitim ist.
- Der „KenFM“-Artikel fordert gleich zu Beginn auf, selbst in die später präsentierten Daten hineinzugehen. Es wird also geradezu darauf bestanden, in eine kritische Auseinandersetzung mit den präsentierten Inhalten zu gehen, während die dpa-Meldung hier bloß die Alarmglocke schlägt, ohne dem Leser die Möglichkeit zu geben, die Zahlen selbst nachvollziehen zu können.
- Der „Spiegel“-Artikel ist zwar eine Meldung, die von einer Presseagentur einfach übernommen wurde, dennoch wurde der Text auf der Seite des „Spiegels“ veröffentlicht, weshalb das Medienhaus auch für diesen Artikel verantwortlich gemacht werden kann.
Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass der ausgewählte „Spiegel-Artikel“ natürlich nicht lügt, aber durch Weglassen von Rahmeninformationen und unter „Rekontextualisierung der Daten“ ein bestimmtes Bild der Lage vermittelt – darum spreche ich hier von der sogenannten „Lückenpresse“.
Aus meiner Sicht schafft es der KenFM-Artikel hier deutlich besser, dem Leser und der Leserin die Möglichkeit zu geben, nachzuvollziehen, wie der Autor hier zu seiner Einschätzung der Lage gekommen ist. Zugleich wird dazu eingeladen, selbst darüber nachzudenken und gegebenenfalls zu einem anderen Schluss zu kommen, während der Spiegel die Meldung als „objektives Wissen“, als „Faktum“ präsentiert, obwohl ganz gezielt eine bestimmte Wirkung angestrebt wurde.
Für mich persönlich ist es heutzutage wichtig, faktenbasiert und nachvollziehbar zu berichten. Man kann nicht vom Leser oder der Leserin erwarten, dass er oder sie weiß, wie es sich üblicherweise mit dem Sterbeverhalten in den einzelnen Ländern verhält, noch wie viele Menschen in einem bestimmten Land leben. Natürlich kann man all dies recherchieren, aber wenn das Medium den Leser nicht explizit dazu auffordert, dann kommt die Leserin vermutlich auch nicht auf die Idee, irgendwelche Zahlen gegen zu rechnen.
Es ist aus meiner Sicht die Aufgabe der Medien, komplizierte Sachverhalte nicht verkürzt und unter Aussparung wichtiger Details, aber doch prägnant und verständlich zu vermitteln. Diese Vermittlung sollte einzig dem Zweck der Informationsweitergabe dienen. Dies ist meines Erachtens leider bei vielen großen Medienhäusern und den Öffentlich-Rechtlichen schon lange nicht mehr der Fall.
von Marco Lo Voi
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