
Die Legende von König Purusha und der Tänzerin Prakriti
Es heißt das Selbst und das reine Bewusstsein entstamme einem Urwesen, Purusha – der Schöpfer des Universums und der Ursprung allem Geschaffenen. Wie ein König sitzt er auf seinem Thron ohne sich zu bewegen, in sich ruhend, zufrieden und ohne jegliche Wahrnehmung auf die Außenwelt, das Verlangen hervorruft oder Sorgen bereitet. Er ist ungebunden; Er ist Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit; Er ist – für immer unvergänglich. Eines Tages erwacht ein bisher schlummernder Anteil von ihm. Anders als er zeigt sich dieser neugierig mit Sehnsucht nach Fortbewegung und Entwicklung. Voller Entdeckungsfreude löst sich der wach gewordene Teil namens Prakriti von Purusha ab, um die Welt zur erforschen. Als Prakriti sich ihrer Selbst bewusst wird, erkennt sie, was sie von dem in sich gekehrten König unterscheidet. Da muss es doch noch mehr geben, denkt sie sich. Voller Neugierde möchte sie sich mit ihm austauschen und mehr über das Leben erfahren.
Weil sich Purusha nicht von seinem friedvollen Zustand abbringen lässt, versucht Prakriti, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen und beginnt, um ihn herum zu tänzeln. Mit jeder Umdrehung wird ihr Tanz einfallsreicher und auffallender. Doch Purusha lässt sich von ihren Bemühungen nicht beeindrucken, denn er verspürt keinen Mangel in seinem Wesen, weshalb er keinen Grund hat sich von seinem Gewahrsein zu lösen. Noch immer in der Hoffnung die Aufmerksamkeit des Königs zu erlangen, tanzt Prakriti weiter bis sie neue Fähigkeiten entwickelt: Das Vermögen zu denken, die Macht zu handeln und Erkenntnisse zu gewinnen.
Verzückt von ihren erworbenen Kräften zieht die Tänzerin größere Kreise um des Königs Thron und entfernt sich dabei mehr und mehr. Sie tanzt sich in Ekstase. Dabei bilden sich die fünf Elemente aus denen das grobstoffliche Leben entspringt: Erde, Luft, Wasser, Feuer und Äther. Nach weiterem Tanzen entwickeln sich die fünf Sinnesorgane und so ist es ihr möglich, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen. Auf der Entdeckungsreise ihres Daseins tanzt Prakriti immer weiter und sucht nach Lebensinhalte, die sie erfüllen. Eines Tages hält die Tänzerin plötzlich inne. Erschrocken stellt sie fest, dass sie nichts mehr um sich herum zu erkennen vermag, denn Nebel verhüllt ihre Sicht. So oft hat sie um sich gewirbelt, sich so überschwänglich bewegt, hat sich selbst in ihrem Tun gefallen und gelangte zu vielen Fähigkeiten, dass sie dabei vergaß, weshalb sie überhaupt tanzte. König Purusha ist ihrem Gedächtnis gänzlich entfallen. Der göttliche Teil, der Wesenskern ihres Seins wurde im Nebel des schnellen Lebens verschleiert.
Ängstlich erkennt Prakriti, dass sie ohne dem Wissen über ihren Ursprung weder weiterkommen würde, noch verspürt sie den Wunsch danach. Angetrieben von plagender Ungewissheit und Rastlosigkeit nimmt sie die Suche nach ihren Wurzeln auf. Ihre Reise führt sie auf die Gipfel der höchsten Berge, in das Dunkel der dichtesten Wälder und in die Tiefen der Seen und Meere. Nirgendwo kann sie sich ihren Ursprung erklären. Den Blick stets nach Außen gewandt vergisst Prakriti, nach innen zu gehen, dort wo sich Herz und Seele befinden, in welchem die göttlichen Anteile von Purusha ruhen. Wie ein versteckter geheimer Schatz schlummern Frieden und Liebe tief in ihrem Inneren, darauf wartend gefunden zu werden in der Verworrenheit des Lebens.
Auf der Suche nach dem One Piece
Im Wesen des Menschen steckt Neugierde, die ihn zu Entdeckungen, Forschungen und Erfindungen antreibt. Noch bevor wir sprechen lernten und Erwachsene mit Fragen löcherten, begannen wir die Welt auf eigene Faust zu erkunden, in dem wir alles, das uns in die Quere kam anfassten, in den Mund nahmen und voll sabberten. Wir taten das, um das Außen be-greifen zu können. Die Sinne sind die Instrumente der Wahrnehmung, die es ermöglichen das Leben zu erfahren. Aus der Sankhya-Philosophie – eines der sechs großen Philosophiesysteme Indiens – gehen Purusha (die Seele, das Bewusstsein, das Urwesen) und Prakriti (die Urmaterie, aus der die Schöpfung entsteht) hervor. Sie beide sind die Urprinzipien des Kosmos. Prakriti ist die Welt der Objekte und die treibende Kraft für Veränderungen auf der Welt und im Leben. Körper kommen und gehen. Der Atem kommt und geht. Alles, was gedacht, benannt, gesehen, berührt wird, kommt und geht. Nichts bleibt für immer.
Ohne Prakriti würden wir noch in Höhlen sitzen und seltsame Laute von uns geben, wenn wir es überhaupt zu einer menschlichen Verkörperung geschafft hätten. Veränderungen gehen aus etwas Beständigem hervor und ermöglichen Evolution. Purusha repräsentiert das Selbst in Form von reinem Bewusstsein. Während Prakriti sich fortlaufend wandelt und die Persönlichkeit des Menschen bildet, ist Purusha der unbeteiligte Beobachter in unserem Inneren, der die gesammelten Eindrücke zu Erfahrungen entstehen lässt, ohne von der Welt der Materie berührt zu sein. Es heißt, er ist die Seele, aus der unser wahres Selbst hervorgeht.
Alles, was wir in Erfahrung bringen, verändert sich eines Tages genauso wie Gesellschaften, Strukturen, Normen und Regeln, in die wir hineinrutschen. Gerade noch im Kindesalter stehst du plötzlich Mitten im Leben und fragst dich, wann es geschah, dass du erwachsen wurdest. Und jo, wer hat dich gefragt, ob du überhaupt damit einverstanden bist? Die Sicht auf die Welt und das Leben bleibt nicht die gleiche, sowie sich Bedürfnisse, Wünsche, Sehnsüchte und Notwendigkeiten ändern. Ganz gleich, welchen Bestrebungen wir folgen, ein jeder von uns durchlebt den Prozess von Geburt, Altern, Krankheit und Tod. Zwar mag es uns mit Hilfe von medizinischen Fortschritten gelingen, unser Ende hinauszuzögern, dennoch sind wir nicht in der Lage, davor zu fliehen. Genauso wenig, wie es möglich ist, uns vor den Schattenseiten des Lebens zu schützen.
Für viele ist das Leben eine fortlaufende Abfolge von Ereignissen. Zur Schule gehen. Ausbildung oder Studium absolvieren. Arbeiten und Geld verdienen. Beziehungen eingehen. Sich häuslich einrichten. Eine Familie gründen. Kariere machen. Sich schöne Dinge leisten. Das Leben wird als ein vorgefertigter Plan behandelt, der etappenweise bearbeitet wird. Auf der Suche nach dem One Piece, dem großen Schatz, welchem die Strohhutpiraten noch immer auf der Spur sind, treiben uns Pläne an und verleihen unseren Leben offenbar einen Sinn. Aber irgendwo auf der Reise dorthin ist das Leben kompliziert geworden. Unsere Ziele sind uns im Weg! Wenn wir dem Prozess des Lebens mehr Aufmerksamkeit schenken würden, dann wäre es uns möglich, nicht nur beim Erreichen eines Ziels Freude zu verspüren, sondern auch den Weg dorthin mit allen Höhen und Tiefen lieben zu lernen. Denn: „Leben ist das, was passiert während du beschäftigt bist andere Pläne zu machen.“
Wären wir als ein anderes Lebewesen geboren worden, dann wäre es ziemlich einfach gewesen. Wir hätten uns auf physische Bedürfnisse beschränkt. Dementsprechend wären wir mit einem vollen Magen zufrieden gewesen. Nun ist es, wie es ist – du und ich sind Menschen und dürfen uns glücklich schätzen, dass wir zu jenen gehören, die keinen Hunger leiden müssen. Nur leider ist die Sache nicht so easy. Ein leerer Bauch stellt lediglich ein einziges Problem dar: Hunger. Ein voller Bauch hingegen bringt dutzende Probleme mit sich. Sobald das Überleben auf dem Spiel steht, dreht es sich nur um dieses eine Problem. Doch wenn es dem Menschen gut geht, werden seine Bestrebungen größer. Das Leben wird im Außen kreiert, wo wir es uns möglichst gemütlich einrichten. Eingebettet in einem System, das uns mit Strukturen, Gesetzen, Versicherungen und Routinen ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit vermittelt, glauben wir daran, dass es uns schützt. Letztendlich tut es das nicht.
Stattdessen stellt es uns vor Hürden. Ganz gleich, ob uns Dämonen der Vergangenheit heimsuchen, kreierte Luftschlösser uns daran erinnern, was wir in Zukunft haben oder sein wollen, oder Träume in der Gegenwart wie eine Seifenblasen zerplatzen – irgendetwas beschäftigt den Menschen immer. Der bitter-süß schmeckende Cocktail mit giftigem Beigeschmack, der sich Leben nennt. Niemand kommt da lebend heraus. Wie in Patanjalis Yogasutra – die etwa 2000 Jahre alte Yogaschrift – vereinfacht und hart ausgedrückt wird: „Wir kommen auf die Welt, um Probleme zu haben.“
Und wo steckt nun das One Piece – die Essenz des Lebens? Während meiner ersten Yogaausbildung in Nepal fragte unser Professor im Philosophieunterricht jeden einzelnen von uns: „Was ist das Ziel deines Lebens?“ Die Antworten lauteten in etwa: reisen gehen und die Welt entdecken, tolle Menschen um sich herum zu haben, das machen, was Spaß bereitet, sich zuhause fühlen, gesund sein, Familie haben, glücklich sein. Auch ich dachte ähnlich, doch ich wusste, dass es mir um noch etwas anderes geht, denn was bringen einem diese Ziele, wenn man dabei nicht zufrieden ist? Und so antwortete ich also: „Zufriedenheit.“
Der Professor hatte uns geduldig zugehört und fragte schließlich, was denn die eigentlichen Ziele hinter Reisen, einem guten Umfeld, tollen Dinge und so weiter seien. Das alles seien Begleitfaktoren, doch welche Motivation steckt dahinter? Spaß, Freude und Zufriedenheit im Leben zu verspüren sei bestimmt schön, fuhr er fort. Aber ist es uns möglich, immer so zu empfinden? Was passiert, wenn ein lieber Mensch von uns geht oder wir uns verletzen und krank werden oder den Job verlieren? Sind wir dennoch in der Lage, glücklich und zufrieden zu sein? Alle waren wir uns einig, dass es kaum möglich ist. Der Professor löste auf: „Das einzig wahre Ziel ist es, sich selbst kennen zu lernen. Das tun wir mit allem, was uns im Leben begegnet – alles freudvolle, wie auch die schweren Momente. Wir lernen, indem wir leben.“
Blaue oder rote Pille?
Als das physisch höchst entwickelte Geschöpf auf diesen Planeten – so wage ich es zu sagen – besitzt der Mensch einen ausgeklügelten analytischen Denkmechanismus und die Mittel, etwas zu erschaffen. Er ist in der Lage, zu hinterfragen, weshalb und wofür er etwas tut. Anders als Maschinen, die nicht aus einer Intuition und Neugierde heraus handeln oder Entscheidungen treffen. Sie führen lediglich jene Befehle aus, nach welchen sie programmiert wurden. Mensch zu sein bedeutet, dass wir die Situationen, in denen wir leben, so formen können, wie wir es wollen. Die meisten Menschen aber werden stattdessen von Situationen geformt, in denen sie sich befinden. Ähnlich wie Schauspieler, die sich an das Theaterstück halten, das von jemand anderem geschrieben wurde. Wie bewusst leben wir überhaupt? Inwiefern sind wir uns über das Umfeld, unsere Taten, Worte, Gedanken und Gefühlen im Klaren, die wir gegenüber anderen oder uns selbst richten? Mit der Kraft der Sinne kann jeder selbst das Leben erfahren. Um es mit den Worten von Phenomden, einem Schweizer Reggaesänger, zu sagen:
„Für irgendetwas hast du ja deinen Kopf bekommen. Und für irgendetwas hast´ ja wohl deine Augen bekommen. Für irgendwas hast´ doch deine Ohren bekommen. Und für irgendetwas hast´ ja wohl einen Mund bekommen. Also fang an dich umzuschauen. Ja, fang an dich umzuhören. Ja, rede und überleg mal für dich selbst. Es kann nicht sein, dass sie für dich denken. Fang an!“
(Quelle)
Täglich treffen wir Entscheidungen, die unseren Alltag und das Leben beeinflussen – vergleichbar mit dem Film Matrix, in welchem die Entscheidung bei der blauen und roten Pille liegt. Es liegt in unserer Hand, an was wir glauben und wie wir leben wollen, ob wir hin oder weg sehen, das Leben so betrachten, wie es uns in der materiellen Welt vorgelebt wird oder stattdessen die Tiefen des Lebens von innen heraus erforschen. Die entscheidende Frage ist, was wir wahrhaben wollen. Im Außen treffen wir auf viel Unwahrheiten, welche teils unschuldig auf ein goldenes Tablett serviert werden und denen wir gerne Glauben schenken. Auch finden wir dort süße Freuden, die das Leben bereichern. Es liegt in der Natur des Menschen – vor allem in unserer Kultur – die Augen auf die äußere Welt zu richten, um sich vor Gefahren in Acht zu nehmen, Befriedigungen zu finden und für ein gut funktionierendes System beizutragen.
Doch nicht alleinig deswegen fällt es uns schwer, in das Innere zu blicken. Es ist die Angst vor dem, was wir dort vorfinden. Wir wissen oder vermuten, dass tief in uns Erinnerungen und Gefühle lauern, die uns überwältigen könnten, sodass wir uns verletzlich machen würden und unser Funktionieren behindern. Die Innenwelt zeigt Wahrheiten über uns auf, die wir manchmal lieber versteckt halten und deshalb uns selbst und andere belügen. Ach ja, das mit der Wahrheit ist so eine Sache. Wir Menschen trippen in unterschiedlichen Realitäten und Bewusstseinsebenen, auf denen das Außen und Innen verschieden wahrgenommen wird. Wenn es nur so lässig wäre, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken und uns über unser Verhalten bewusst zu werden! Ein Anfang wäre, dass wir lernen, selbstständig zu denken und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, anstatt andere für sein Wohlergehen verantwortlich zu machen oder auch die Bereitschaft haben, Situationen und Menschen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, anstatt nur in der eigenen Blase zu leben.
Ja, mag schon sein, dass es anstrengend sein kann, zu hinterfragen, für sich selbst einzustehen, sich zu behaupten und eine eigene Meinung im Labyrinth der unzähligen Möglichkeiten zu haben, um sich letztendlich so merkwürdig anders zu fühlen. Hinter die Fassade zu blicken lässt vielleicht manchmal den Wunsch zurück, lieber die andere Pille geschluckt zu haben und in der weltlichen Illusion zu leben. Die Last des Wissens und unangenehme Wahrheiten wiegen schwer. Doch so können wir langfristig Frieden mit uns schließen, während die Freuden der äußeren Welt schöne Vergänglichkeiten sind. Egal, ob wir uns für die blaue oder die rote Pille entscheiden; wir gehen die Gefahr ein, verrückt zu werden. Und zwar genau dann, wenn wir immer wieder in gleiche Muster fallen und nichts daran ändern.
Zuckerwatte, Mumien, Vulkane und Messer
Das Außen und Innere sind ständig im Austausch. Durch das Zusammenspiel von Prakriti und Purusha wird Wachstum durch Lernen ermöglicht. Die Schwierigkeit liegt darin, zwischen Innen- und Außenwelt zu unterscheiden, also der Art „Zu Sein“ und der Art „Im Außen zu verkehren“. Ohne es zu wissen, identifizieren wir uns mit allem, was wir besitzen oder was wir tun, wie bspw. mit Beruf, Hobbys, Besitztümer, Partner oder Partnerin, der Familie und Freunden. Kitsch, Firlefanz, Konsum, Süßholzraspel-Konversationen, Versprechungen und Medien sind Verhüllungen aus pinker Zuckerwatte, die unser Leben irgendwie süßer machen. Und dennoch vermögen sie es, den unstillbaren Durst nach mehr nicht zu befriedigen.
Schlummernde Sehnsüchte erinnern uns daran, dass irgendein Mangel existiert – bei manchen womöglich leise, bei anderen laut, schleicht sich der Wunsch nach Veränderungen ein. Kleben geblieben im pinken Zucker und nicht vermögend, etwas anderes um sich herum zu erkennen, beginnen Identifikationen und sorgen für Anhaftungen, die es erschweren, aus der Zuckerwatte-Illusion auszubrechen, geschweige denn zu erkennen, wer man eigentlich ist. Eindrücke, die durch Sinne, Geist, Intellekt und Logik entstehen, wickeln sich Schicht für Schicht um die Seele – der Ursprung unseres Selbst. Was bleibt, ist ein mumifiziertes Ich, das irgendwie da ist und dennoch fremd.
Die Philosophie des Ashtanga-Yoga lehrt anhand des achtgliedrigen Pfads Techniken und Verhaltensformen für sich selbst und im Umgang mit anderen für ein harmonisches Leben. Eine dieser Techniken ist pratyahara, das Zurückziehen der Sinne. Normalerweise wollen Sinnesorgane ihren Funktionen nachgehen. Um sich dem Inneren zu widmen, benötigt es die durch die Sinne erfahrenen Eindrücke nicht. Im Gegenteil, denn der süße Duft eines frisch gebackenen Apfelkuchens oder die zum Mitsingen einladende Musik lenken die Aufmerksamkeit nach außen. Plötzlich ist uns nach Essen oder Musikhören zu Mute und wir wollen diesen Bedürfnissen nachgehen. Nicht selten verbinden wir im Außen erlebte Reize mit Erfahrungen, die im neurologischen System unseres Körpers gespeichert sind und Emotionen hervorrufen. Und so erinnert uns der Duft eines Apfelkuchens bspw. an Oma, auch wenn dieser von jemand anderen gebacken wurde; ein bestimmtes Lied löst ein nostalgisches Gefühl aus, das einem für einen Moment ganz anders fühlen lässt.
Sinnesorgane füttern unseren analytisch denkenden Geist und erschweren ihn zur Ruhe zu kommen. Nicht selten sind mit Sinneseindrücke Emotionen verbunden, die wir uns oft nicht einmal mehr erklären können. Wünsche, Sehnsüchte, Pläne, Erinnerungen und Traumata brodeln im Inneren wie ein aktiver Vulkan, der droht auszubrechen. Vielleicht ahnen wir, was sich unter der Oberfläche befindet, doch wir lenken uns gerne im Außen ab oder verdrängen, um nicht an unsere Dämonen erinnert zu werden. Eine verständliche Reaktion, denn es hat schon etwas Bedrohliches, einem aktiven Vulkan zu nahe zu kommen, geschweige denn, sich gruseligen Wesen zu stellen. Mit pratyahara lernen wir, die Aufmerksamkeit von außen nach innen zu wenden, um sich dem was sich dort befindet geduldig anzunehmen und auf den Grund zu gehen. Es ist die Brücke zwischen der Welt im Außen und im Inneren. Diese überschreiten zu können, erfordert zum Beobachter unserer Gedanken und Gefühlen zu werden, ohne sie zu werten. In den stillen Momenten hören wir das Wesentliche. Die Stille ist nicht leer. Sie ist voller Antworten. Ein Moment mit geschlossenen Augen und geöffneten Herzen lässt uns klar sehen.
Aus dem Jnana Yoga (Yoga des Wissens; zugehörig zu den sechs großen Yogawegen), geht viveka und vairagya hervor. Viveka ist die Fähigkeit zu unterscheiden: zwischen Innen und Außen, Licht und Dunkelheit, Himmel und Erde, Liebe und Hass, Erfolg und Misserfolg, Freude und Last, Frieden und Krieg, Ewigen und Vergänglichem, Leben und Tod. Die Welt besteht aus Gegensätze, die es für ihre Existenz benötigt und so behandelt der Mensch das Leben als Dualität. Er teilt es auf in gut und schlecht, normal und verrückt, lieb und böse, mögen und nicht mögen. Mit dieser Art zu denken, zu fühlen und zu handeln definieren wir Grenzen, die unsere physische und soziale Welt bestimmen. Unsere innere Welt hingegen ist grenzenlos. Was wäre, wenn wir verstehen würden, dass diese scheinbaren Gegensätze in Wirklichkeit alle miteinander verbunden sind? Vielleicht gibt es keine schlechten Menschen, sondern nur schlechte Taten. Vielleicht sind die guten Menschen deshalb gut, weil ihnen weniger Schlechtes widerfahren ist. William Shakespeare sagte: „Es gibt nichts Gutes oder Schlechtes, aber das Denken macht es so.“ Viveka wird auch als das Messer beschrieben, das die unsichtbaren Seile in unserem Geist durchtrennt und eine Erfahrung der Ganzheitlichkeit werden lässt.
Vairagya meint das Losgelöst-Sein, das Nicht-Anhaften an Dingen, die wir mögen oder nicht mögen, das Freisein von Wünschen und die Leidenschaftslosigkeit. Es ist ein Ausbrechen aus den äußeren Umständen und das innere Darüberstehen bzw. das Sich-lösen der mit Leid verbundenen Dualität des Lebens. Vairagya bedeutet nicht, dass uns das Leid anderer egal ist und wir unser Mitgefühl aufgeben. Vielmehr ist es das Gegenteil, denn ohne schmerzhafte Verwicklung mit dem, was geschieht, ist unser Blick klarer, unser Mitgefühl tiefer und unsere Hilfe kraftvoller. Das Ego steht uns nicht mehr im Weg. Kannst du annehmen, was du nicht vermagst zu ändern? Kannst du loslassen, was Schmerzen bringt? Ist es dir möglich, wirklich zu vergeben? Kannst du in der Welt sein, ohne ständig alles zu deinen Wohlwollen oder deiner Missgunst zu bewerten und danach zu handeln? All diese Eigenschaften sind vairagya. Der wohl härteste Kampf, in dem jeder früher oder später verwickelt wird, ist jener zwischen Kopf und Herz – Verstand gegen Gefühle, welche durch die Erfahrungen der äußeren Welt beeinflusst werden. Wenn es gelingt, aus der Zweischneidigkeit des Lebens auszubrechen, werden wir ein Leben in innerer Freiheit und Frieden führen.
So wie die Tänzerin Prakriti sich von König Purusha entfernte, um die Welt und sich selbst kennenzulernen, sind auch wir Menschen neugierige Wesen, in denen das Bedürfnis nach Entdeckungen und Entfaltung steckt. Zum einen benötigt es Prakritis Kraft, um Wachstum und Veränderungen zu bewirken. Mit ihr gelingt es uns, das Äußere wahrzunehmen und lernen zu können. Zum anderen ist sie ebenfalls die Unruhestifterin, die das Außen mit ihrem rastlosen Tanz aufwühlt und dadurch auch ihre Innenwelt durcheinander bringt.
Purusha hingegen beobachtet, ohne dabei von den äußeren Geschehnissen berührt zu werden. Er ist reines Bewusstsein und trägt Frieden in sich. Die Legende vom König und der Tänzerin lehrt uns, in der Außenwelt viel Freude finden zu können, zu kreieren, sich zu entfalten und Spaß zu haben, doch dass es ein Leichtes, ist sich im Rausch der unzähligen Möglichkeiten zu verlieren und auf Dauer unzufrieden zu werden, weil wir vergessen, das Innere zu beobachten und uns über unser Selbst bewusst zu sein. Purusha und Prakriti sind nicht voneinander getrennt. Sie gehören zusammen und dennoch werden sie von vielen Menschen getrennt behandelt. Es sind nicht die äußeren Umstände, die das Leben verändern, sondern die inneren Veränderungen, die sich im Leben äußern. Es erfordert Mut und Willenskraft, wahre Veränderungen herbeizuführen. Der Weg hinaus führt hinein.
„Shanks hat immer gesagt, wenn dir der Weg zu einfach erscheint, ist es nicht der richtige.“
– Ruffy, der Strohhutpirat, auf der Suche nach dem One Piece
von Ida Pousaz
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Quellenverzeichnis
Literatur:
Sadhguru (2016): Die Weisheit eines Yogis – Wie innere Veränderung wirklich möglich ist. O.W. BARTH.
Ralph Skuban (2011): Patanjalis Yogasutra – Der Königsweg zu einem weisen Leben. arkana.
Online:
Die Legende von König Purusha und der Tänzerin Prakriti wurde abgewandelt nach der Vorlage von Yogaeasy:
https://www.yogaeasy.de/artikel/unser-ursprung-die-legende-von-purusha-und-prakriti


